Die Neoliberalisierung des Flüchtlingsrechts

Integration durch Verunsicherung? Das so genannte „Integrationsgesetz“ setzt auf die umfassende Prekarisierung der Lebenswirklichkeit

von Claudius Voigt, GGUA Münster

Das, was die Bundesregierung als „Integrationsgesetz“ bezeichnet, hat mit Integration ungefähr so viel zu tun, wie die Agenda 2010 mit dem Ausbau des Sozialstaats. Auch sonst sind viele Parallelen zu sehen. Das Gesetz verfolgt konsequent die Paradigmen von Selektion, Disziplinierung, Sanktionierung und Verwertung. Aus selbstbestimmten Menschen wird vor allem eines: eine zu verwaltende und zu disziplinierende Masse. Individuen werden mit dem vorliegenden Gesetzesentwurf schon grammatikalisch objektiviert – ihnen werden Dinge „zugewiesen“ (Arbeitsgelegenheiten oder Wohnsitze), ihnen werden Verpflichtungen auferlegt (etwa am nicht vorhandenen Integrationskurs teilnehmen zu müssen, oder seinen Wohnsitz irgendwo nicht nehmen zu dürfen), ihnen werden Dinge verboten (z. B. eine Arbeit anzunehmen oder seine Familie nachzuholen).

Wer sich seiner Objektivierung widersetzt, wird umfassend sanktioniert: Das Asylbewerberleistungsgesetz erfährt eine exponenzielle Steigerung der Kürzungstatbestände von vier im März 2015 auf etwa 15 nach Inkrafttreten der Gesetzesänderungen. Kürzung heißt dabei konkret: Ein Regelbedarf von etwa 190 Euro monatlich und damit weniger als das rein physische Existenzminimum – kein Geld für Teilhabe am sozialen Leben, kein Bildungs- und Teilhabepaket, kein Hausrat, keine Behandlung chronischer Erkrankungen, keine Zusatzleistungen für Menschen mit Behinderungen, kein Geld für Kleidung. Mitarbeiter*innen der Sozialen Arbeit, bei Bildungsträgern sowie Betriebe werden zur Denunziation verpflichtet, etwa wenn jemand den Integrationskurs abbricht oder eine Arbeitsgelegenheit nicht annimmt oder eine Ausbildung abbricht, obwohl er oder sie eine Duldung für die Ausbildung hat.

Flankiert wird das Ganze mit einem Bußgeldkatalog: An den falschen Ort umzuziehen kostet für anerkannte Flüchtlinge bis zu 1.000 Euro. Arbeitgeber*innen müssen künftig bis zu 30.000 Euro zahlen, wenn sie einen jungen Menschen mit einer Duldung für die Ausbildung „nicht, nicht richtig, nicht vollständig, nicht in vorgeschriebener Weise oder nicht rechtzeitig“ denunzieren, sofern er oder sie die Ausbildung abbricht. Ursprünglich geplant waren hierfür gar 500.000 Euro! Man fragt sich, ob der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit innerhalb der Bundesregierung gänzlich abhanden gekommen ist. Oder ob einfach nur die Taste „0“ in der Computertastatur des zuständigen Referats geklemmt hat.

Apropos „Duldung für die Ausbildung“: Das neoliberale Paradigma der Verunsicherung schlägt sich in dieser Regelung in Reinform nieder. Hatte das Bundesarbeitsministerium in einem ursprünglichen Entwurf noch einen Anspruch auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis für eine Ausbildung nach abgelehntem Asylverfahren vorgesehen (und damit langjährige berechtigte Forderungen auch der Arbeitgeber*innen nach dem „Spurwechsel“ umgesetzt), sieht der aktuelle Entwurf wieder nur eine Duldung vor – wenn auch ohne die bisherige Altersgrenze von 20 Jahren und ohne einen kategorischen Ausschluss von Menschen aus den so genannten „sicheren Herkunftsstaaten“. Wenn aber die Ausbildung abgebrochen oder Straftaten über bestimmten Bagatellgrenzen verübt werden sollten, erlischt die Duldung kraft Gesetzes. Menschen werden also über einen langen Zeitraum in Unsicherheit gehalten und bei non-konformem Verhalten ausländerrechtlich existenziell sanktioniert. Ein äußerst wirksames Mittel staatlicher Verhaltenskontrolle!

Dieses Modell wird auch auf die Aufenthaltsverfestigung übertragen: Anerkannte Flüchtlinge haben bislang nach drei Jahren ohne weitere Voraussetzungen einen unbefristeten Aufenthaltsstatus erhalten, wenn das BAMF die Statusanerkennung nicht widerrufen hat. Nun soll die Niederlassungserlaubnis erst nach fünf Jahren erteilt werden, und nur dann, wenn unter anderem der Lebensunterhalt „überwiegend“ selbst gesichert ist. Als Belohnung für besonders gute Deutsch-Kenntnisse und eine „weit überwiegende“ Lebensunterhaltssicherung soll weiterhin nach drei Jahren der Aufenthaltsstatus unbefristet erteilt werden. Die Frage, was „überwiegend“ und was „weit überwiegend“ eigentlich bedeutet, dürfte in ein paar Jahren Inhalt jeder Menge verwaltungsgerichtlicher Verfahren werden. Das wichtigste Handwerkszeug der Richter*innen wird darin ein Taschenrechner und eine Hartz-IV-Tabelle sein.

Es gäbe viele weitere Beispiele im so genannten Integrationsgesetz, die keineswegs zu besseren Teilhabemöglichkeiten, sondern vielmehr zu einer politisch gewollten Prekarisierung der Lebensverhältnisse führen werden. Etwa dies hier: Aus den zahlenmäßig stark aufgestockten, verpflichtenden Arbeitsgelegenheiten, den so genannten „Ein-Euro-Jobs“, werden künftig „80-Cent-Jobs“, die Höhe der Aufwandsentschädigung wird regelmäßig von 1,05 € auf 0,80 € gekürzt. Oder das hier: Eine der wenigen tatsächlich positiven Aspekte war ursprünglich die Idee, Neu-Bürger*innen während der ersten drei Jahre einen Anspruch auf Übernahme von Dolmetscher- oder Übersetzungskosten durch den zuständigen Sozialleistungsträger einzuräumen. Entgegen ersten Referenten-Entwürfen ist diese Regelung in der aktuellen Gesetzesvorlage ersatzlos gestrichen worden.

Zugleich setzt das „Integrationsgesetz“ konsequent die Verhinderung und das Verbot von Integration für diejenigen Geflüchtetengruppen fort, denen die Bundesregierung in einer „ex-ante“-Prognose „keine gute Bleibeperspektive“ voraussagt – also zum Beispiel für Menschen aus Afghanistan. Dabei spielt es keine Rolle, dass die Ablehnungsquote im Asylverfahren von Menschen aus Afghanistan im vergangenen Jahr bei weniger als 14 Prozent lag. Es auch egal, dass im vergangenen Jahr lediglich neun Menschen bundesweit nach Afghanistan abgeschoben worden sind und dass die Quote der Dublin-Überstellungen gen null tendierte – die tatsächliche Bleibewahrscheinlichkeit von Menschen aus Afghanistan also unterm Strich fast 100 Prozent betrug. Die Ideologie der „Bleibeperspektive“ hat mit der Realität so gut wie nichts zu tun, wie das Ideologien oft so an sich haben. Aber sie dient als wirksames Instrument, Teilhabe konsequent zu verhindern und Ressentiments zu schüren.

Das „Integrationsgesetz“ ist im eigentlichen Sinne reaktionär. Es befindet sich damit in unseliger Tradition der Asylpakete I und II. Die Ziele sind klar: asyl- und migrationspolitisch eine weitreichende Entrechtung der Betroffenen. Und sozialpolitisch eine möglichst umfassende Ökonomisierung, die im Flüchtlingsrecht bislang noch nicht vollständig umgesetzt war. Für diese Ziele schafft die Bundesregierung nun ein neues Durchsetzungsinstrument: die körperliche Exklusion in Form der Drohung, den Standort Deutschland verlassen zu müssen – zumindest aber nie ganz ankommen zu dürfen.

Weitere Infos zum „Integrationsgesetz“:´

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4 Gedanken zu „Die Neoliberalisierung des Flüchtlingsrechts“

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