AnkER-Zentren: „Normalfall“ Lager? Die Institutionalisierung der Abgrenzung

[April 2018]

Die große Koalition plant die flächendeckende Kasernierung von Schutzsuchenden: Nach bayerischem Vorbild sollen Flüchtlinge vom ersten Tag an für die gesamte Dauer ihres Asylverfahrens in Lagern, so genannten „AnkER‐Zentren“, untergebracht werden. Dies folgt einer politischen Agenda, die im Umgang mit Geflüchteten nur mehr auf Kontrolle, Ausgrenzung und Abwehr setzt und sich den Abbau eines vermeintlichen Vollzugsdefizits bei Abschiebungen zur handlungsleitenden Maxime erkoren hat.

In ihren verschiedenen Ausformungen und unter unterschiedlichsten Bezeichnungen – Ankunftszentren, Erstaufnahmeeinrichtungen, Gemeinschaftsunterkünfte, Containersiedlungen und bald wohl auch „AnkER‐Zentren“ – sind Flüchtlingslager in beinahe jeder bundesdeutschen Kommune zu finden. Zeitweise wurden sogar Turnhallen, Flugzeughangars oder ehemalige Baumärkte zu Lagern umfunktioniert. In anderen Teilen der Europäischen Union ist die Situation kaum anders. Im nordfranzösischen Calais bestand ein als „Dschungel“ bezeichnetes Camp, in dem insbesondere minderjährige Flüchtlinge unter elenden Bedingungen hausten, während sie auf die Chance hofften, von dort aus nach Großbritannien zu gelangen. Entlang der Balkanroute verharren tausende Menschen in überfüllten Lagern und warten darauf, dass sich die Grenzen nach Westeuropa wieder öffnen. Das Moria‐Camp auf Lesbos, ein sogenannter Hotspot der Europäischen Union, ist dramatisch überbelegt. Mehrere tausend Menschen sind dort unter widrigsten Bedingungen untergebracht.

Angesichts der enormen Zahl an Lagern mitten in Europa hat in den letzten Jahren ein Gewöhnungs‐ und Abstumpfungsprozess eingesetzt. Die Gewöhnung an die Institution Lager hat angesichts eines sich in weiten Teilen Europas vollziehenden Rechtsrucks unmittelbar politische Folgen: Flüchtlingslager werden nicht mehr als humanitäre Notbehelfe betrachtet, sondern von Regierungen zu dauerhaften Einrichtungen einer sich verschärfenden Flüchtlings‐ und Asylpolitik ausgebaut. Lager sind damit Orte der Verwahrung, Verwaltung und Abwehr von Menschen.

Prekärer Aufenthalt unter ständiger Kontrolle

Als Flüchtlingslager können alle Einrichtungen verstanden werden, in denen Menschen, die auf der Flucht sind, vorübergehend untergebracht werden. Dabei spielt es keine Rolle, ob die Unterbringung auf einer freien Entscheidung des Aufnahmestaats beruht oder widerwillig erfolgt. Für den Blick auf die Institution Lager ist es außerdem unerheblich, aus welchen Gründen Menschen zu Flüchtlingen wurden. Flüchtlingslager sind – historisch betrachtet – keine ständigen Einrichtungen eines Staates, sondern entstehen als Notbehelfe in einer Ausnahmesituation. Sie sind ihrer Struktur und ihrem Zweck nach Institutionen auf Zeit.

In den gegenwärtigen europäischen Flüchtlingslagern leben vor allem jene Menschen, denen der jeweilige Aufnahmestaat keinen gesicherten Aufenthaltsstatus zubilligt und zubilligen will, die sich also nicht frei im Land bewegen und niederlassen dürfen. Ein Teil der Lager entsteht daher entlang der Grenzen, wo sie eine Kontroll‐ und Abwehrfunktion erfüllen und Teil des europäischen Grenzregimes sind. Bei anderen Lagern ist die Unterbringung die zentrale Funktion.

Lager sind Orte sozialer Kontrolle. Diese ergibt sich aus der Unfreiwilligkeit des Zusammenlebens, der fehlenden Privatsphäre, der Anwesenheit von Sozialarbeiter*innen, Sicherheitsbediensteten und Behördenvertreter*innen und den daraus resultierenden Hierarchiegefällen. Behörden und NGOs bieten in Flüchtlingslagern zwar wohlfahrtsstaatliche Unterstützung unterschiedlichen Umfangs, zugleich sind die Lager aber konkrete Orte staatlichen Ordnungsstrebens. So gehen mit dem Lageraufenthalt in der Regel weitere Restriktionen einher. Dabei kann es sich um Arbeits‐ und Schulverbote handeln, oft ist das Essen fremdbestimmt, Datenschutz und Privatsphäre werden missachtet, darüber hinaus ist die politische Betätigung oder die Teilnahme an gesellschaftlichen Aktivitäten eingeschränkt oder verboten. Überdies finden in diesen Einrichtungen, obwohl hier oft hunderte, mitunter tausende Menschen auf beengtem Raum zusammenleben, Konfliktprävention und Gewaltschutz nur selten gebührende Aufmerksamkeit.

In Lagern wird nicht gewohnt

Angesichts dieser Bedingungen wird ersichtlich, dass in Flüchtlingslagern nicht gewohnt wird. Die in den Lagern Untergebrachten haben nicht die Möglichkeit, ihr Leben und ihren Lebensmittelpunkt frei und selbstbestimmt zu gestalten. Sie gewöhnen sich in der Unterkunft nicht ein, weil sie wissen und, was wichtiger ist, hoffen, dass sie im temporären Lager nur für eine begrenzte und überschaubare Zeit leben werden. Das gilt auch für Institutionen, in denen Geflüchtete über eigene Wohnbereiche verfügen. Flüchtlingslager können folglich lediglich eine Möglichkeit sein, um auf eine Ausnahmesituation, etwa eine humanitäre Krise, zu reagieren. Werden solche Notbehelfe aber zu Dauereinrichtungen, werden die dort Untergebrachten mehr und mehr marginalisiert und ihr prekärer Status wird perpetuiert.

Lager sind Symbole der Abgrenzung

Hotspots wie Moria zeigen, dass Flüchtlingslager weit mehr sind als bloße Orte der Unterbringung und Versorgung. Lager waren und sind in aller Regel auch Orte der Kontrolle, der Prüfung und der Abweisung. Gerade in der gegenwärtigen Debatte und dem Schwenk von der „Willkommenskultur“ zur Beschwichtigung besorgter Bürger*innen werden Lager funktional aufgewertet und zu wesentlichen Instrumenten der deutschen und europäischen Asyl‐ und Flüchtlingspolitik. Zum einen dienen Hotspots an den europäischen Außengrenzen der Abschreckung: Seit Jahren sind sie erbärmlich ausgestattet. Weitere Flüchtlinge sollen sich möglichst gar nicht auf den Weg machen, weil ihnen dann, so die Botschaft, ein Leben in schäbigen Camps bevorstehe. Durch den Umstand, dass diese Lager provisorische Einrichtungen sind und bleiben und ihre baulichen und hygienischen Standards deutlich hinter den Normen der jeweiligen Gesellschaft zurückfallen, zeigt der aufnehmende Staat zugleich, dass für jene, die dort untergebracht sind, keineswegs dieselben Regeln gelten wie für alle anderen Menschen. Die Unterbringung im Lager und die damit verbundenen Restriktionen werden so zu Symbolen der Abgrenzung.

Zum anderen werden sowohl in Hotspots wie Moria als auch und in den deutschen Erstaufnahmeeinrichtungen Verhandlungen über Aufnahme und Abweisung geführt und Statusfragen vorentschieden. Genau aus diesem Grund müssen (in aller Regel) nur jene Menschen in Lagern leben, deren Status, Berechtigung und mitunter auch Gesinnung die jeweilige Gesellschaft zunächst kontrollieren und prüfen will.

Flüchtlinge unterliegen der Verpflichtung, eine Erstaufnahmeeinrichtung zu durchlaufen. Sie werden – zumindest idealtypisch – registriert, untersucht, befragt und solange untergebracht, bis über ihren künftigen Status entschieden wird. Wird ein Schutzstatus erteilt oder ist dieser zu erwarten, wird die Weiterleitung an die Kommunen organisiert, falls nicht, wird ihre Abweisung und Abschiebung vorbereitet. Solche Lager fungieren damit als Scharniere zwischen den dort Untergebrachten und der Gesellschaft, von der sie räumlich und symbolisch getrennt sind.

Abschiebung als Programm

Die Große Koalition plant die bundesweite Einführung der in Bayern ersonnenen AnkERZentren, in denen Schutzsuchende während des gesamten Asylverfahrens untergebracht werden sollen.

Schon die Begrifflichkeit dieser sogenannten AnkER‐Zentren ist bezeichnend für die ihnen eingeschriebene Logik: Nach der Ankunft einer oder eines Asylsuchenden in der Bundesrepublik soll noch im Lager eine Entscheidung über den Asylantrag und sodann die Rückführung – ein verharmlosendes Wort für Abschiebungen – in die Herkunftsländer erfolgen. Die Verteilung auf die Kommunen oder die Anerkennung im Asylverfahren werden dagegen sprachlich gar nicht mehr berücksichtigt. Wie perfide diese keineswegs zufällige Auslassung ist, wird deutlich, wenn man sich bewusst macht, dass die allermeisten Flüchtlinge bislang nach einem kurzen Aufenthalt in den Erstaufnahmeeinrichtungen auf die Kommunen verteilt werden – und zwar nicht zuletzt deshalb, weil ihre Abschiebung nach deutschem und europäischem Recht gar nicht ansteht. Vielmehr erhalten die meisten Flüchtlinge, die die Bundesrepublik aufnimmt, einen Schutzstatus oder erwerben auf anderen Wegen ein Bleiberecht.

Mit der flächendeckenden Einführung der AnkER‐Lager nach bayerischem Vorbild würden nun aber alle Flüchtlinge während des Asylverfahrens kaserniert und dem Dreiklang Ankunft, Entscheidung und Rückführung unterworfen. Gerade jene Flüchtlinge, die angeblich keine „positive Bleibeperspektive“ haben, sollen nicht mehr in die Kommunen kommen und auf keinen Fall am gesellschaftlichen Leben teilnehmen. Sie sollen direkt aus diesen Lagern abgeschoben werden.

Isolation und sinkende Schutzquoten

Abgesehen von dem Umstand, dass die Unterscheidung in eine „positive“ und „negative“ Bleibeperspektive eine fatale Aushöhlung des individuellen Asylrechts bedeutet, ist sie in Verbindung mit der Isolation von Asylsuchenden in Lagern besonders bedenklich. Denn zugleich setzt die Bundesregierung alles daran, über das BAMF immer weniger Flüchtlingen eine „positive Bleibeperspektive“ zuzubilligen und die Schutzquoten weiter zu senken. Damit werden die AnkER‐Zentren jene Lager sein, in denen mehr und mehr Schutzsuchende unter prekären Umständen dauerhaft verwahrt werden, bis ihre Abschiebung erreicht werden kann. Faire Asylverfahren sind in solchen isolierten Einrichtungen, in denen Schutzsuchenden der Zugang zu einer unabhängigen Beratung deutlich erschwert wird, nicht zu erwarten.

Die Bemühungen um eine Absenkung von Schutzquoten und der Ausbau von abgeschlossenen (Abschiebe‐)Lagern gehen Hand in Hand und werden von Politiker*innen immer wieder befeuert. So erwecken etwa die wieder und wieder beschworenen hohen – gleichwohl falschen – Zahlen angeblich ausreisepflichtiger Personen den Eindruck, ausstehende Abschiebungen seien ein zentrales politisches Problem. Dieses müsse, so die Argumentation, dadurch gelöst werden, dass die neu eintreffenden und ohnehin abzuschiebenden – Flüchtlinge gar nicht erst auf die Kommunen verteilt und die bereits in den Kommunen lebenden Abzuschiebenden in Abschiebeeinrichtungen untergebracht werden. Abschiebezentren und AnkER‐Lager werden damit zur propagierten Lösung für ein Problem, das in dem behaupteten Umfang gar nicht existiert.

Abschied von elementaren Grundrechten

Wie sehr solche Lager mit einer Aushöhlung elementarer Grundrechte einhergehen, zeigt sich dort, wo sie bereits existieren. In einigen bayerischen Lagern wird keine unabhängige
Asylverfahrensberatung gewährleistet, was schlicht rechtswidrig ist. In der Erstaufnahmeeinrichtung Horst in Mecklenburg‐Vorpommern haben unabhängige NGOs keinen Zugang. Dort Untergebrachte berichten von bedrückenden Zuständen. Für jene, die in den Lagern leben müssen, sind Arbeit, Sprachkurse, Bildung und Schule gerade deshalb nicht vorgesehen, weil die Einrichtungen darauf ausgelegt sind, Flüchtlinge möglichst rasch wieder abzuschieben.

Angesichts dieses politischen Programms festigen AnkER‐Lager das öffentliche Bild von „illegalen Migrant*innen“, deren rasche Abschiebung folgerichtig und notwendig erscheint. Ein berechtigtes Schutzbegehren wird nur noch Einzelnen zugebilligt, die in dieser Logik nur mehr dazu dienen, die Einhaltung der Rechtsnormen und eine humanitäre Aufnahmepolitik behaupten zu können. Und genau dieses Zerrbild wird zur impliziten Begründung für die Notwendigkeit der Lager selbst: Denn wer dieser Logik nach illegal im Land ist, muss bestraft und eingesperrt, zumindest aber in Lagern untergebracht und mit Restriktionen belegt werden. Nur vor diesem Hintergrund wird klar, warum laut Koalitionsvertrag die „Justiz“ in den AnkER‐Lagern mitarbeiten soll.

Verwahrung statt Integration

Angesichts dieser Strategie kann die vorgesehene Begrenzung des Lageraufenthalts auf „in der Regel“ 18 Monate kaum beruhigen. Einige Flüchtlingsgruppen können bereits jetzt länger in solchen Einrichtungen untergebracht werden. Eine Verlängerung der Aufenthaltsdauer in solchen Lagern und schließlich die Abschaffung jeder zeitlichen Begrenzung sind da nicht fern.

Weil Abschiebungen häufig undurchführbar oder rechtswidrig sind, werden Abschiebelager so für einige Flüchtlinge zu Orten der Dauerverwahrung. Für jene, deren Asylantrag mit einer Anerkennung endet, geht durch die lange Unterbringung in den Lagern wertvolle Zeit verloren – ihre Integration wird ohne Not verzögert.

Angesichts dieser Entwicklungen ist die Befürchtung berechtigt, dass Lager in Deutschland wie in Europa mehr und mehr zu Dauereinrichtungen und die dort Untergebrachten zu einer marginalisierten Gruppe werden. Die Aufnahme von Schutzsuchenden und die Asylverfahren werden immer weiter verschoben in ein abgegrenztes bürokratisches System fern
zivilgesellschaftlicher Kontrolle.

verfasst von Sascha Schießl

Dieser Text ist zuerst erschienen im ProAsyl-Heft Tag des Flüchtlings 2018.

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