Aktuelle Stunde: Umgang mit Härtefällen in Niedersachsen

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Die heutige Rede des niedersächsischen Innenministers Uwe Schünemann verdeutlicht, dass die Landesregierung trotz der massiven Kritik von Kirchen, Wohlfahrtsverbänden und Flüchtlingsorganisationen offenbar keine Änderungen bei der Zusammensetzung der Härtefallkommission vornehmen und auch daran festhalten will, dass die Beschlussfähigkeit dieses Gremiums erst bei Anwesenheit von sieben Mitgliedern (bislang: fünf Mitglieder) gegeben sein soll. Die angekündigte Ermöglichung einfacher Mehrheiten (statt einer 2/3-Mehrheit) läuft damit weitgehend ins Leere: Denn es müssen mindestens fünf von sieben bzw. acht anwesenden Mitgliedern einem Härtefallbegehren entsprechen, damit ein Härtefallantrag als angenommen gilt. Bei weniger als sieben Mitgliedern ist das (ehrenamtlich arbeitende) Gremium nicht beschlussfähig, bei weniger als fünf positiven Stimmen gilt das Härtefallbegehren als abgelehnt. Nach wie vor weigert sich das Land, Vertreter/innen von Menschenrechts- und Flüchtlingsorganisationen in das Gremium zu berufen.

Ob das Land gewillt ist, bei der Neufassung der Härtefallkommissionsverordnung auf formale Ausschlussgründe zu verzichten, lässt der Innenminister in seiner Rede offen. Welche absurden Folgen die bisherige Regelung hat, macht der heute in der Hannoverschen Zeitung dokumentierte Fall der Familie Bajrami eindrucksvoll deutlich (s. Anhang).

Ob humanitäre Aspekte in Niedersachsen angemessen gewürdigt werden, ist – anders als der Innenminister behauptet – nicht nur eine Frage individueller Beurteilung. Solange der Bezug (ergänzender) öffentlicher Mittel nach dem Wortlaut der niedersächsischen Härtefallverordnung regelmäßig als Grund für die Verweigerung einer Anerkennung als Härtefall anzusehen ist, wird man der Landesregierung den Vorwurf nicht ersparen können, die Härtefallkommission mit einem Anwerbebüro für wirtschaftlich leistungsfähige Arbeitskräfte zu verwechseln.

siehe auch: Härtefallkommission muss umstrukturiert werden

gez. Kai Weber

Anlage:  HAZ 20.06.2012

Abschiebung – trotz Arbeit
Wolfsburg. Drei DIN-A4-Seiten umfasst die Unterschriftenliste aus dem Volkswagenwerk Wolfsburg: Alle Kollegen, rund 120 insgesamt, haben unterschrieben, damit Sefer Bajrami nicht in ein Land abgeschoben werden muss, das seit Jahrzehnten nicht mehr seine Heimat ist. Vor 17 Jahren haben er und seine Frau Nedjima, beide damals 21 Jahre alt, den Kosovo verlassen. Jetzt soll die Roma-Familie dorthin zwangsweise wieder zurück.
Ihr Anwalt Dietrich Wollschlaeger nennt das „Vertreibung aus der Heimat“. Dabei beziehe die Familie keinerlei Staatsleistungen, komme selbst für ihr Leben auf und sei bestens integriert. Vater Sefer hat eine unbefristete Stelle bei VW, verdient rund 3500 Euro brutto im Monat. Seine Frau Nedjima hat jahrelang – trotz stechender Gelenk- und Rheumaschmerzen – bei einem Gebäudereinigungsunternehmen gearbeitet. Dann hatte sie einen Bandscheibenvorfall, vor drei Monaten wurde sie operiert. „Ich habe immer gearbeitet, mit der Hoffnung, dann kann ich in Deutschland bleiben“, sagt sie.
Wegen der Krankheit der Frau wurde die geplante Abschiebung im Januar gerade noch verhindert. Ein Amtsarzt bescheinigte ihr damals, nicht reisefähig zu sein. Aber ein neuer Termin könnte jederzeit angesetzt werden. Dann sollen auch die beiden minderjährigen Kinder Samela (17) und Severdan (13) umziehen in ein Land, in dem sie noch nie waren. Beide sind in Wolfsburg geboren und sprechen überhaupt kein Albanisch. Samela besucht eine Berufsschule und will Friseurin werden. Ihr Bruder geht in die 6. Klasse der Hauptschule Fallersleben. Im Kosovo, in dem sie nichts verstehen und keine Freunde haben, möchten sie nicht leben. Auch Samelas und Severdans Mitschüler haben Unterschriften gesammelt, so wie die VW-Kollegen ihres Vaters.
„Ich empfinde die Abschiebung in diesem Fall, aber auch generell, als einen Akt der Unmenschlichkeit“, sagt Holger Wille, Diakon der katholischen St.-Christophorus-Gemeinde in Wolfsburg. „Den Bajramis werden einfach die Wurzeln gekappt.“ Noch bleibt die Hoffnung auf die Härtefallkommission, obwohl ein erster Antrag vom Oktober 2011 dort aus formalen Gründen abgelehnt worden war, weil Papiere fehlten, wie Kommissionsvorsitzende Martina Schaffer sagt. Ein zweiter Antrag – im Januar 2012 – scheiterte, weil damals bereits ein konkreter Abschiebetermin feststand.
Diese Regelung hatte dem Innenministerium wiederholt Kritik von Kirchen und Flüchtlingsverbänden eingebracht. Möglicherweise werde sie schon in den nächsten Wochen fallen, sagt eine Ministeriumssprecherin. Derzeit würden die Vorgaben überarbeitet. Heute beschäftigt sich der Landtag mit dem Thema. Bei der Stadt Wolfsburg heißt es, ob ein unbefristeter Arbeitsvertrag des Mannes, die Schulpflicht der Kinder oder die Krankheit der Mutter einen weiteren oder gar dauerhaften Abschiebeschutz bieten könnten, müsste im Zuge eines erneuten Härtefallantrags der Bajramis beurteilt werden.

20.06.2012 / HAZ Seite 5 Ressort: NIEDERSACHSEN

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