„Ich möchte niemanden in der ganzen Welt wünschen, dass er einen Tag oder Nacht im Camp Harmanli verbringen muss. Es ist die Hölle.“ sagte uns ein syrischer Kriegsflüchtling, der nun in Bulgarien anerkannt lebt und täglich um Arbeit und Wohnung kämpfen muss. Wir trafen ihn letzte Woche in Plovdiv.
Zehn Tage lang haben wir in Bulgarien recherchiert, einem Land, in das Deutschland nun verstärkt schutzbedürftige Syrer und Afghanen abschieben möchte. Unser Team aus sechs Asylexperten, Kirchenleuten und Juristen hat vor Ort Regierungsvertreter, NGOs, Anwälte und vor allem auch aus Deutschland abgeschobene Flüchtlinge getroffen und interviewt. Wir werden bald einen detaillierten Bericht vorlegen, der auch juristisch die Entscheidungspraxis des BAMF hinterfragen und zu einer neuen Bewertung in der Rechtsprechung beitragen könnte. Unsere Experten und Anwälte arbeiten daran.
Schon jetzt lassen sich interessante Aussagen machen über strukturelle Defizite der Behandlung und Aufnahme von Flüchtlingen in Bulgarien, die nicht nur in Einzel- oder Ausnahmefällen begründet sind:
Pushbacks
Die gewaltsamen Pushbacks an der Grenze zur Türkei gehen weiter und werden verstärkt. Sie werden auch von bulgarischem Territorium aus verübt. Ein Minderjähriger berichtete uns in Harmanli von vier Pushbacks. Uns liegen viele weitere glaubwürdige Berichte dazu vor, auch von NGOs in Sofia und an der Grenze.
Die Grenze
Der neue Grenzzaun an der türkischen Grenze, den wir besucht haben erinnert an Zeiten der Teilung Europas und des Eisernen Vorhangs, der auch hier verlief. Der doppelte Zaun versperrt die Fluchtrouten und wird durch gestaffelte Polizeiposten auf bulgarischem Territorium ergänzt. Trotzdem kann die 513 km lange Grenze am Rande der EU kaum komplett verriegelt werden.
Wir haben bei unserer Recherche Hinweise für einen wahrscheinlichen Standort eines GEAS-Internierungslagers bekommen, das hier errichtet werden soll.
Die Verhaftung
Menschen, die den Zaun oder die grüne Grenze überwinden, werden bei der Verhaftung im nahen Wald oft brutal misshandelt. Eine NGO hat allein letztes Jahr 57 Leichen geborgen von Flüchtlingen, die an Erschöpfung, aber auch an Folgen von Gewalt gestorben sind. Ein syrischer Flüchtling soll nach brutalen Schlägen im Wald an inneren Blutungen unbehandelt im Gefängnis Butsmansi in Sofia gestorben sein. Ein nach Deutschland geflüchteter Syrer, sein Freund, hat uns das in einem uns vorliegenden Interview berichtet.
Die Gefängnisse
Fast alle Asylsuchenden werden nach der Verhaftung in die berüchtigten Gefängnisse Butsmansi und Ljubimez gebracht, wo sie bis zu vier Wochen bleiben müssen, misshandelt werden und unter unbeschreiblichen hygienischen Bedingungen, fast ohne ärztliche Betreuung leben müssen. Noch nicht einmal der Gang zur Toilette wird in Butsmansi nachts ermöglicht. Geflüchtete müssen durch geöffnete Fenster urinieren oder ihre Notdurft in Plastikflaschen machen – so die zahlreichen Berichte.
Uns wurde glaubwürdig berichtet, dass in Ljubimez in einem Spezialcontainer regelmäßig Flüchtlinge, auch Frauen und Minderjährige, verprügelt werden. Einem jungen Syrer, dessen Vater wir in Harmanli trafen, wurde die Hand gebrochen, weil er morgens seinen Wohncontainer verlassen hatte, um frische Luft zu schnappen.
Die andauernde Gewalt von Polizei und Security in Butsmansi und anderen Einrichtungen wurde uns von etlichen Flüchtlingen bestätigt, die wir jetzt vor Ort trafen sowie auch von Vertretern von nationalen und internationalen Hilfsorganisationen.
Die offenen Camps, Harmanli
Nach dem Gefängnisaufenthalt werden Geflüchtete in offene Camps geschickt. Während es in Sofia ein offenes Camp gibt, das den Besuchern aus unserer Gruppe einen besseren Eindruck machte, bleibt das Lager in Harmanli nahe der türkischen Grenze ein Hotspot, trotz der seit Jahren vorgetragenen Kritik. Ein neuer Lagerdirektor versucht dort, menschenwürdigere Bedingungen zu schaffen, scheitert aber am fehlenden Geld und den korrupten und gewalttätigen Strukturen des großen Camps mit einer derzeitigen Belegung von 820 Flüchtlingen (am 10.09.24).
Verpflegung der Lagerbewohner ist qualitativ und quantitativ völlig unzureichend, die hygienischen Zustände sind in den Hauptwohnbereichen katastrophal, die Sicherheit der Bewohner ist nicht gewährleistet.
- Essen wird nur zweimal am Tag ausgeteilt, um 11 Uhr das Mittagessen, um 16 Uhr Abendessen und Frühstück zusammen. Jugendliche berichten uns von der Ausgabe von gefrorenem Brot, das sie zum Frühstück essen sollen. Alle Flüchtlinge klagen über Mangelernährung. Es gibt kaum Obst, Eiweiß oder Gemüse. Von rund €3 Budget für die Versorgung pro Person am Tag kann dies nicht ermöglicht werden. Der Betrag wurde seit 2015 nicht erhöht. Noch nicht einmal frisches Trinkwasser ist vorhanden. Uns wurde berichtet, dass das Wasser aus dem Hahn, das die Bewohner im Toilettenraum trinken müssen, erhöhte Werte von Uran enthalte. Geflüchtete kaufen das Wasser selbst im Supermarkt, solange sie Geld haben.
- Hygiene: insbesondere die Blocks 10 und 11 sind so verdreckt und ruiniert, dass man dort eigentlich nicht leben kann. Die Toiletten sind ohne Tür. Es gibt keine funktionierenden Duschen. Ale leiden massiv unter Bettwanzen und Krätze, sowie dadurch verursachten Entzündungen und Wunden, die nicht ausreichend behandelt werden.
- Sicherheit: Viele der dort lebenden syrischen Flüchtlinge werden von einigen Mitbewohnern belästigt oder von Handlangern der Schlepper und Drogenhändler bedroht. Ausstehende Schulden sollen dabei eingetrieben werden. Das Lager ist nachts geschlossen, aber dennoch nicht sicher vor Eindringlingen von außen. Es gibt immer wieder Kämpfe und Messerstechereien, auch als wir dort waren. Die Polizei schlägt dann oft brutal zu und verprügelt auch Unbeteiligte.
Die Minimalstandards für menschenwürdige Aufnahmebedingungen, medizinische Versorgung und Sicherheit werden in Harmanli nicht eingehalten.
Nahe dem Camp verteilen zwei engagierte Hilfsorganisationen Essen, sauberes Wasser und Medikamente, die es im Lager nicht gibt, und behandeln unter anderem die Krätze und die Wunden der Flüchtlinge, da dies im Lager nicht geschieht.
Anerkennung und Integration
Auch die Integration in Bulgarien und der Aufbau menschenwürdiger Lebensverhältnisse gelingt nicht. Wer als schutzbedürftig anerkannt wird, landet strukturell regelmäßig im Elend.
Das Land verfolgt seit Jahren eine „Zero-Integration-policy“.
Nach der bisher relativ zügigen Anerkennung, vor allem von Syrern, geraten die meisten Flüchtlinge in prekäre Arbeits- und Wohnverhältnisse, sind obdachlos und hangeln sich von Schlafplatz zu Schlafplatz. Es gibt in der Regel keinen Zugang zu Krankenversicherung.
Flüchtlinge arbeiten fast alle schwarz, wenn sie Arbeit finden. Sie sehen sich dazu gezwungen. Die Aufnahme einer legalen Beschäftigung ist kaum möglich. Die niedrigen Löhne werden immer wieder nicht voll ausgezahlt. Es gibt meist nur Handlangerjobs auch für ausgebildete und gebildete Menschen, die in Deutschland gebraucht würden. Wir hörten von zahlreichen Arbeitsunfällen.
Die meisten Geflüchteten leben in Behelfszimmern mit vielen Personen in einem Zimmer. Es gibt keinerlei Mittel zur Integration und keine Sprachkurse.
Wer anerkannt wird, muss das Lager verlassen, innerhalb von zwei Wochen eine Wohnadresse finden. Sonst erhält er keinen Zugang zu sozialen Leistungen, Arbeitsgenehmigung oder Krankenkasse. Gelingt dies nicht, gibt es keine Identifikationsnummer.
Ein Labyrinth von Sackgassen führt Geflüchtete ins Nichts. Nur wenigen gelingt es, Fuß zu fassen. Wir trafen in Sofia einen völlig abgemagerten hungrigen jungen Mann, der vor einigen Monaten aus Deutschland abgeschoben wurde und nun versucht, im Elend Tag für Tag zu überleben. Rückkehrer und Abgeschobene aus Deutschland leben zeitweise in einem Park neben der Banja-Baschi-Moschee.
Andere werden vorübergehend von in Sofia lebenden Migranten so gut es geht unterstützt.
Die Minimumstandards der Versorgung von „Brot, Bett und Seife“ werden in Bulgarien nicht eingehalten.
Für das kleine Bulgarien, das ärmste Land der EU, das unter politischer Instabilität, den Auswirkungen des nahen Krieges in der Ukraine und hoher Arbeitslosigkeit leidet, ist die von der EU und Deutschland geforderte Aufnahme und Rücknahme von Flüchtlingen eine Überforderung. Die Menschen in Bulgarien haben wir und auch Flüchtlinge als herzlich und hilfsbereit erlebt, aber sie können die Defizite der europäischen Asylpolitik nicht kompensieren.
Wir sind voller bedrückender Informationen, Erlebnisse und Erzählungen zurückgefahren.
So kann es nicht bleiben.
Wir fordern
- eine massive Unterstützung Bulgariens, menschenwürdige Aufnahmestrukturen aufzubauen. Die „Zero Integration“-Politik muss beendet werden.
- eine Entlastung der europäischen Randländer und eine Revision des unfairen Verteilungssystems der Dublin-Verordnung
- wir fordern eine Revision der Entscheidungspolitik des BAMF zu Bulgarien, das die seit Jahren bekannten Fakten ignoriert
- wir fordern eine Aussetzung aller Abschiebungen nach Bulgarien.
In Bulgarien
- müssen die schweren polizeilichen Übergriffe untersucht und abgestellt werden
- muss die den Menschenrechten widersprechende generelle Haft für Flüchtlinge nach der Einreise aufgegeben werden
- müssen menschenwürdige Unterbringungen ermöglicht werden. Das Lager in Harmanli sollte aufgegeben werden.
- Sollen Flüchtlinge ein sicheres und zumutbares Leben führen können, dass die elementaren Menschenrechte auf Wohnung, Arbeit und medizinische Versorgung garantiert
München, Frankfurt, Berlin, Münster, Köln, am 22.09.2024
Stephan Reichel, matteo – Kirche und Asyl e.V.
Günter Burkhardt, Frankfurt, Mitbegründer von PRO ASYL
Cecilia Juretzka, Berlin, Ökumenisches Netzwerk Asyl in der Kirche Berlin- Brandenburg
Benedikt Kern, Münster, Ökumenisches Netzwerk Asyl in der Kirche NRW
Joke Jesinghaus, Köln, Ökumenisches Netzwerk Asyl in der Kirche NRW
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