Wie mit Zahlen über „Ausreisepflichtige“ Politik gemacht wird

Inwiefern verlassen ausreisepflichtige Personen Deutschland nicht? Eine Datenanalyse

von Dr. Sebastian Ludwig, Diakonie
(Erstveröffentlichung: Diakonie Deutschland)

Bei der Änderung gesetzlicher Regelungen, wie sie z. B. mit dem „Entwurf eines Zweiten Gesetzes zur besseren Durchsetzung der Ausreisepflicht“ vorgesehen sind, administrativen Maßnahmen im Bereich Rückkehrmanagement sowie der Medienberichterstattung wird von einer mangelnden Rechtsdurchsetzung bei der Ausreisepflicht ausgegangen.

Diese Annahme ist zweifelhaft. Es können keine verlässlichen Aussagen zu Ausreisepflichtigen gemacht werden, wie die Bundesregierung in Antworten auf Kleine Anfragen im Deutschen Bundestag eingeräumt hat (Deutscher Bundestag 2017).2 Ohne valide Datenbasis sollen mit dem Geordnete-Rückkehr-Gesetz einschneidende Maßnahmen beschlossen werden, um die Ausreisepflicht durchzusetzen.

Die Zahlen, die verfügbar sind, weisen darauf hin, dass die meisten Ausreisepflichtigen ausreisen. Von denen, die bleiben und geduldet sind, dürfen viele nicht abgeschoben werden, bei anderen erfolgt die Duldung im behördlichen Ermessen aus legitimen und zumindest politisch anerkannten Gründen, wenngleich ihr Aufenthalt rechtlich als nicht rechtmäßig gilt und sie ausreisepflichtig sind. Das betrifft beispielsweise unbegleitete Minderjährige, die keinen Asylantrag gestellt haben, Personen mit einer Ausbildungsduldung, Eltern aufenthaltsberechtigter Kinder zur Ausübung der Personensorge, Schutzsuchende, die einen Folgeasylantrag gestellt haben, oder Personen, denen eine erhebliche, konkrete Gefahr für Leib, Leben oder Freiheit droht, die auf eine „Allgemeingefahr“ (§ 60 Abs. 7 S. 5AufenthG) zurückzuführen ist.

Im Folgenden sollen insbesondere Daten des Ausländerzentralregisters analysiert werden, die sich erstens auf den Aufenthalt und Ausreisen von ausreisepflichtigen Personen insgesamt, zweitens den Aufenthalt und Ausreisen insbesondere abgelehnter Asylsuchender und drittens auf die Erfassung von AufenthaltsgründengeduldeterPersonenbeziehen.

Wer ist ausreisepflichtig?

Grundsätzlich gilt: Gemäß § 50 AufenthG ist jede Person ausreisepflichtig, die nicht über einen Aufenthaltstitel verfügt. Der Aufenthalt ist dann, ggf. zwangsweise durch Abschiebung, zu beenden.Teilweise wird jedoch aus rechtlichen oder tatsächlichen Gründen gemäß § 60a AufenthG eine Abschiebung ausgesetzt und der Aufenthalt geduldet. Eine Person ohne Aufenthaltstitel bleibt jedoch trotz Duldung ausreisepflichtig und der Aufenthalt gilt nicht als rechtmäßig.

  • Die Ausreisepflicht sagt wenig darüber aus, ob sich jemand aus legitimen Gründen geduldet in Deutschland aufhält oder nicht, auch wenn der Aufenthalt nicht als rechtmäßig gilt.

Anzahl ausreisepflichtiger und geduldeter Menschen Ende 2018

Am 31.12.2018 waren im Ausländerzentralregister 235.957 ausreisepflichtige Personen gespeichert, davon waren 180.124 Personen geduldet (Deutscher Bundestag 2019b, S.68f). Personen, deren Abschiebung ausgesetzt ist, haben grundsätzlich laut Urteil des Bundesverwaltungsgerichts3 einen Anspruch auf Duldung. Daher ist zu vermuten, dass sich die verbleibenden 55.833 ausreisepflichtigen Personen ohne Duldung zum großen Teil nicht mehr in Deutschland befinden.4 Dass nur 17.979 Ausreisepflichtige ohne Duldung Leistungen nach dem Asylbewerberleistungsgesetz beziehen, weist ebenfalls darauf hin, dass die Zahl der Ausreisepflichtigen deutlich zu hoch ist.5 Dass die größten Gruppen unter den ausreisepflichtigen Personen ohne Duldung Staatsangehörige der Russischen Föderation, Afghanistans oder Iraks sind, deutet darauf hin, dass es sich ebenfalls um Schutzsuchende handelt. Zum Teil handelt es sich bei ausreisepflichtigen Personen ohne Duldung auch um EU-Bürger. Vielfach sind jedoch vermutlich fehlerhafte oder nicht aktualisierte Einträge der Ausländerbehörden der Grund für falsche Angaben im AZR.

  • Da ein Anspruch auf Duldung besteht, wenn die Abschiebung ausgesetzt ist, haben Ausreisepflichtige ohne Duldung zu einem Großteil (bis zu einem Viertel aller Ausreisepflichtigen) vermutlich das Land längst verlassenoder könnten sich ohne Kenntnis der Behörden in Deutschland aufhalten.

Anteil (abgelehnter) Asylsuchender an Ausreisepflichtigen Ende 2018

Am 31.12.2018 befanden sich 36.967 6 der 235.957 im Ausländerzentralregister als ausreisepflichtig gespeicherten Personen im Asylverfahren. Während des Asylverfahrens ist der Aufenthalt grundsätzlich gestattet und damit rechtmäßig. Im AZR erfolgt die Eintragung einer Asylentscheidung erst, nachdem die Bestands- oder Rechtskraft eingetreten ist (Deutscher Bundestag 2017, S. 9). Vermutlich handelt es sich hier vor allem um Folgeantragsteller, bei denen über die Neuaufnahme eines Asylverfahrens noch nicht entschieden wurde. Zum Teil könnte es sich gleichzeitig um o.g. Ausreisepflichtige ohne Duldung handeln. Nur 131.995 Personen der 235.957 als ausreisepflichtig gespeicherten Personen haben jemals einen Asylantrag gestellt, der abgelehnt wurde (Deutscher Bundestag 2019b, S. 69). Es handelt sich bei den Ausreisepflichtigen daher nur zu etwas mehr als der Hälfte (ca. 56%) um abgelehnte Schutzsuchende. Die anderen sind beispielsweise Personen, deren Arbeits-, Studenten- oder Touristenvisum abgelaufen ist.

  • Ca. 10% der als ausreisepflichtig gespeicherten Personen befinden sich im Asylverfahren und sind daher nicht ausreisepflichtig.
  • Nur die Hälfte der ausreisepflichtigen Personen sind abgelehnte Asylsuchende, die anderen z.B. Personen, deren Visum abgelaufen ist oder EU-Bürger.
  • Ungefähr die Hälfte der Ausreisepflichtigen hat nie in Landesaufnahmeeinrichtungen für Asylsuchende gelebt. Daher geht die Fokussierung des Rückkehrmanagements auf Landesaufnahmeeinrichtungen an der Realität zumindest zum Teil vorbei.

Wie viele Personen mit abgelehntem Asylantrag sind in 2018 ausgereist?

Es ist bekannt, dass mindestens 236.767 Drittstaatsangehörige im Jahr 2018 ausgereist sind (Deutscher Bundestag 2019a, S. 62), wobei zu vermuten ist, dass ein Großteil der ausgereisten Personen ausreisepflichtig war und nicht auf eigenen Wunsch hin das Land verlassen hat. Darunter fallen auch diejenigen, die abgeschoben wurden. Bekannt ist, dass von diesen ausgereisten Drittstaatsangehörigen mindestens 41.587 Asylsuchende mit abgelehntem Asylantrag waren, wobei von 18.341 der Asylantrag erst im Jahr 2018 abgelehnt wurde und von 10.602 im Jahr 2017 (Deutscher Bundestag 2019a, S. 65).

  • Die Zahl der ausgereisten Drittstaatsangehörigen im Jahr 2018 entspricht ungefähr der Zahl aller ausreisepflichtigen Personen Ende 2018. Ohne deren Ausreise wäre die Zahl vermutlich etwa doppelt so hoch.
  • Die Zahl der 41.587 abgelehnten Asylsuchenden, die bei ihrer Ausreise in 2018 registriert wurden, entspricht zumindest einem Drittel aller als ausreisepflichtig gespeicherten, abgelehnten Asyl-suchenden Ende 2018.
  • Die meisten ausgereisten Asylsuchenden sind innerhalb weniger Monate nach ihrem negativen Asylbescheid ausgereist.
  • Nicht bekannt ist, wie viele weitere Personen ohne Kenntnis der Behörden ausgereist sind und wie viele Personen insgesamt ausgereist sind, die ausreisepflichtig waren.

Verhältnis von Ausreisen zu Ausreiseentscheidungen in 2018

Im Jahr 2018 wurden 51.766 Ausreiseentscheidungen7 gegenüber Drittstaatsangehörigen erlassen, davon 18.896 gegenüber Asylsuchenden (Deutscher Bundestag 2019a, S. 58 und 60). Wie viele davon ausgereist sind, ist nicht bekannt. Im Jahr 2018 sind jedoch 41.587 Asylsuchende mit abgelehntem Asylantrag ausgereist. Teilweise erhalten Ausreisepflichtige keine Duldung, sondern eine Grenzübertrittsbescheinigung (GÜB), die sie bei Ausreise/ Grenzübertrittabgeben sollen. Im Jahr 2018 hat die Bundespolizei zumindest 34.319 GÜBs von ausgereisten Ausreisepflichtigen an der Grenze entgegengenommen (Deutscher Bundestag 2019a, S. 67). Diese Zahl entspricht zumindest zwei Dritteln der neuen Ausreiseentscheidungen, wenngleich es sich teilweise auch um Fälle handeln wird, für die Ausreiseentscheidungen in Vorjahren gefällt wurden. Die Zahl der durch REAG/GARP geförderten Ausreisen entspricht mit 15.962 Personen (Deutscher Bundestag 2019a, S. 66) nur der Hälfte derer, die nach Ausreise eine GÜB abgegeben haben. Hinzu kommt, dass vermutlich viele ausgereiste Personen ihre GÜB nicht abgegeben haben oder keine bekommen hatten, sondern z. B. mit einer Duldung ausgereist sind.

  • Ungefähr 51.766 Ausreiseentscheidungen in 2018 standen zumindest 34.319 Personen gegenüber, die bei Ausreise eine Grenzübertrittsbescheinigung abgegeben haben.
  • Damit liegt die Anzahl tatsächlicher Ausreisen mindestens doppelt so hoch wie die der mit REAG/GARP geförderten Ausreisen – die oft als Indikator für die tatsächlichen Ausreisen genutzt werden.
  • Die Zahl der abgelehnten Asylsuchenden, die bei der Ausreise registriert wurden,ist mit ungefähr 41.587 Personen (s. voriger Absatz) etwa doppelt so hoch wie die Zahl der Ausreiseentscheidungen gegenüber Asylsuchenden in 2018.
  • Es ist unbekannt, wie viele weitere ausreisepflichtige Personen in 2018 ausgereist sind, da sie sich bei den Behörden nicht abgemeldet haben.

Entscheidungen im Asylverfahren und die Zahl ausreisepflichtiger Personen zwischen 2017 und 2018

Die Zahl der Ausreisepflichtigen zwischen 2017 und 2018 ist von 228.859 Personen auf 235.957 Personen (Deutscher Bundestag 2018a, S. 34 sowie 2019a, S. 33) um nur 7.098 Personen (3%) gestiegen. Die Zahl der Geduldeten ist etwas stärker um 14.056 (8%) gestiegen, während die Zahl der als ausreisepflichtig gespeicherten Personen ohne Duldung um 6.958 (11%), vermutlich vorwiegend durch Datenbereinigungen, abgenommen hat.

Angesichts von 75.395 Ablehnungsentscheidungen im Asylverfahren im Jahr 2018 (Deutscher Bundestag 2019c, S. 40) ist der Anstieg um 7.098 ausreisepflichtige Personen relativ gering (weniger als 10%). Dieser Anteil verringert sich noch dadurch, dass nur ca. die Hälfte aller ausreisepflichtigen Personen abgelehnte Asylsuchende sind. Auch wenn abgelehnte Asylsuchende teilweise gegen ihren Bescheid geklagt haben und dieser nach Ablauf der Rechtsmittelfrist noch nicht bestandskräftig wurde, hätte die Zahl ausreisepflichtiger Personen aufgrund von zusätzlich 64.738 Ablehnungen (Deutscher Bundestag 2019c, S. 43ff) in gerichtlichen Verfahreneher zunehmen müssen, da auch die Zahl der anhängigen Gerichtsverfahren von 361.059 Ende 2017 (Deutscher Bundestag 2018b, S. 38) auf 310.959 Ende 2018 (Deutscher Bundestag 2019c S. 43ff) gefallen ist (wenngleich nicht alle gerichtlichen Ablehnungen zur Ausreisepflicht geführt habe, wenn z.B. nur zur Verbesserung des Schutzstatus geklagt wurde).

  • Die Zahl der in Deutschland lebenden ausreisepflichtigen Personen ist trotz 75.395 Ablehnungen im Asylverfahren in 2018 nahezu konstant geblieben.
  • Sie ist auch trotz knapp 65.000 Ablehnungen im gerichtlichen Asylverfahren und sinkender anhängiger Rechtsmittel nicht gestiegen. Das bedeutet, dass der weit überwiegende Teil ausgereist sein muss.
  • Es handelt sich angesichts von über 10 Mio. in Deutschland lebenden Menschen ohne deutsche Staatsangehörigkeit, die potentiell ausreisepflichtig sein können, um eine relativ konstante Anzahl ausreisepflichtiger Personen (ca. 2%), die jedoch einer hohen Fluktuation zu unterliegen scheint.

Ausreisen und Aufenthaltsrecht von abgelehnten Asylsuchenden im überjährlichen Vergleich (2014-2018)

Neben der Annahme, ausreisepflichtige Personen insgesamt würden das Land nicht verlassen, wird kritisiert, dass insbesondere nicht alle abgelehnten Asylsuchenden das Land verlassen. Im überjährlichen Vergleich ergibt sich jedoch ebenfalls die Annahme, dass abgelehnte Asylsuchende zeitnah ausreisen, es sei denn, sie erhalten dennoch ein Aufenthaltsrecht. So lebten laut Ausländerzentralregister am 31.12.2018 in Deutschland 204.138 Personen, die zwischen 2014 und 2018 eingereist waren und deren Asylantrag abgelehnt wurde (Deutscher Bundestag 2019a, S. 75).

Im AZR waren insgesamt 415.865 Personen mit abgelehntem Asylantrag erfasst, während laut Bundesamt für Migration und Flüchtlinge in diesem Zeitraum 616.080 Asylanträge abgelehnt wurden (Bundesamt für Migration und Flüchtlinge 2019, S. 34ff). Von den noch in Deutschland lebenden Asylsuchenden hielt sich ca. die Hälfte rechtmäßig mit Aufenthaltstitel in Deutschland auf (Deutscher Bundestag 2019a, S. 74). So hatten 48.663 Personen einen Schutz entsprechend den nationalen Abschiebungsverboten (§ 60 Abs. 5 und 7 AufenthG) bekommen (ebd., S.75). Weitere 46.559 Personen hatten ein Aufenthaltsrecht aus anderen Gründen (davon 8.265 unbefristet, ebd.). 8 Nur 108.916 (ebd.) und damit ungefähr die Hälfte der genannten 204.138 Personen waren Ende 2018 geduldet, d.h. ihre Abschiebung wurde aus tatsächlichen oder rechtlichen Gründen ausgesetzt. Dies entspricht 17,7% aller laut Bundesamt für Migration und Flüchtlinge in den Jahren 2014 bis 2018 abgelehnten Asylanträge und 26% der Asylsuchenden, die laut AZR erst nach 2014 eingereist sind.

Von diesen 204.138 Personen, die zwischen 2014 und 2018 eingereist sind und deren Asylantrag abgelehnt wurde, aber am 31.12.2018 noch in Deutschland lebten, haben 63.970 Personen (ebd., S.73) erst im Jahr 2018 ihren Ablehnungsbescheid erhalten, weitere 77.922 im Jahr 2017 (ebd., S.72ff). Weniger als 30% haben ihren Ablehnungsbescheid in den Jahren davor bekommen. Je länger die Ablehnung zurückliegt, desto höher ist der Anteil derer, die ein Aufenthaltsrecht haben. Dies sind z.B. 50% derer, die in 2015 oder 2016 abgelehnt wurden und zwei Drittel derer, die 2014 abgelehnt wurden (ebd., S. 68ff).

Von allen in den Jahren 2014 bis 2018 abgelehnten Asylsuchenden hält sich nur die Hälfte derer, die nach 2014 eingereist sind,  noch in Deutschland auf. Davon hat die Hälfteeinen Aufenthaltstitel, ist z.B. aufgrund nationaler Abschiebungsverbote schutzberechtigt und nicht ausreisepflichtig. Bei den übrigen ist die Abschiebung aus rechtlichen oder tatsächlichen Gründen ausgesetzt. Entsprechend dieser Angaben der Bundesregierung finden sich darunter keine Ausreisepflichtigen, die keine Duldung haben.

Von allen jemals abgelehnten Asylsuchenden haben 80% der 654.423 Menschen, die noch in Deutschland leben, ein Aufenthaltsrecht zum Beispiel aufgrund persönlicher, familiärer oder humanitärer Gründe oder zu Erwerbs- und Studienzwecken.

Angesichts von knapp 2 Mio. Asylentscheidungen in den Jahren 2014 bis 2018 kann die Zahl der möglicherweise noch in Deutschland lebenden, ausreisepflichtigenPersonen mit abgelehntem Asylantrag (ca. 5,6%) als gering angesehen werden. Sie werden zumeist aus rechtlichen oder tatsächlichen Gründen oder humanitären Gründen geduldet.

Aus welchen Gründen sind ausreisepflichtige Personen geduldet?

Die im Ausländerzentralregister gespeicherten Daten zu den Duldungsgründen lassen kaum Rückschlüsse zu, aus welchen rechtlichen oder tatsächlichen Gründen ausreisepflichtige Personen konkret geduldet sind. Ebenso lässt sich nicht beantworten, ob ihnen das Abschiebehindernis zuzurechnen ist, wie der Entwurf für das Geordnete-Rückkehr-Gesetz zur Unterscheidung zwischen Duldung und der vorgesehen „Bescheinigung über die Ausreisepflicht“ voraussetzt. So gibt es keine Zahlen, wie viele unbegleitete Minderjährige, Personen mit Ausbildungsduldung, Personen, denen eine erhebliche, konkrete Gefahr für Leib, Leben oder Freiheit drohen, die auf eine Allgemeingefahr (§ 60 Abs. 7 S. 3 AufenthG) zurückzuführen ist, oder Asylsuchende, die einen Folgeantrag gestellt haben, darunter sind, da ihre Abschiebungshindernisse alle unter den „sonstigen Gründen“ im Ausländerzentralregister subsummiert sind. Dies betrifft 72.569 von 180.124 geduldeten Personenund damit ca. 40% (Deutscher Bundestag 2019b, S. 36 und 38). Eine erhebliche, konkrete Gefahr für Leib, Leben oder Freiheit aufgrund einer Allgemeingefahr kommt beispielsweise bei den 14.271 geduldeten afghanischer und 12.607 geduldeten irakischer Staatsangehörigkeit (ebd. S. 38) infrage.

Zu berücksichtigen ist ferner, dass jede Duldung genau einer Kategorie (Abschiebehindernis) zugeordnet ist, ausreisepflichtige Personen jedoch aus mehreren, unterschiedlichen Gründen geduldet sein können, sowohl aus rechtlichen (aus gesundheitlichen Gründen9, als Minderjährige) als auch tatsächlichen Gründen (fehlende Identitätspapiere). So werden sich unter den 74.281 Personen, deren Duldung allein der Kategorie „Abschiebehindernis aufgrund fehlender Identitätsdokumente“ zugeordnet ist, auch Personen befinden, für deren Abschiebung gleichzeitig rechtliche Abschiebehindernisse gelten (Deutscher Bundestag 2019b, S. 38), wie etwa für unbegleitete Minderjährige. Es handelt sich bei den geduldeten Personen somit oft um Personen mit Abschiebehindernissen, von denen auch eine freiwillige Ausreise kaum erwartet werden kann.

Weiter verfügen 11.486 Personen über eine Ermessensduldung (ebd.) zum Beispiel zur Beendigung der Schule oder zur Betreuung kranker Familienangehöriger. Hier haben die Ausländerbehörden die Abschiebung aus legitimen Gründen ausgesetzt, wenngleich diese Personen rechtlich ausreisepflichtig sind. Bei 3.803 als ausreisepflichtig gespeicherten Personen sind medizinische Gründe als Abschiebehindernis eingetragen. Aus diesen Gründen kann gleichfalls eine Ausreise kaum erwartet werden. Auch bei den Duldungen ist im überjährlichen Vergleich ersichtlich, dass die meisten entweder ein Aufenthaltsrecht erhalten oder ausreisen. Nur ein Drittel der 180.124 geduldeten Personen sind bereits länger als 3 Jahre geduldet (ebd., S.37).

Es wurde für verschiedene Fallkonstellationen politisch vereinbart, dass Personen bleiben dürfen (z.B. Ausbildungsduldung) oder es besteht ein rechtliches Abschiebehindernis (z.B. Eltern aufenthaltsberechtigter Kinder, unbegleitete Minderjährige), ohne dass ihr Aufenthalt legalisiert wurde. Es handelt sich um eine rechtliche Grauzone. Wie viele ausreisepflichtige Personen dies betrifft, ist nicht zu ermitteln.

Viele Geduldete sind aufgrund verschiedener Gründe geduldet. Die Annahme, dass der Aufenthalt derjenigen, die aufgrund fehlender Identitätsdokumente geduldet sind, bei Vorlage der Identitätsdokumente beendet werden könnte, ist nicht zutreffend, da oft weitere Duldungsgründe hinzukommen.

Die Annahme, ausreisepflichtige Personen könnten zu einem erheblichen Anteil aufgrund ärztlicher „Gefälligkeitsatteste“ nicht abgeschoben werden, ist angesichts von lediglich 3.803 von 180.124 geduldeten Personen (2%) mit diesem angegebenen Duldungsgrund nicht haltbar.9 Wobei für die Anerkennung eines medizinischen Abschiebehindernisse sehr hohe Hürden zu überwinden sind (vgl. § 60a Abs. 2c/d AufenthG). Daher fallen in diese Kategorie nur 3.803 von insgesamt 180.124 geduldeten Personen, wenngleich teilweise der Eindruck in der Öffentlichkeit erweckt wird, gesundheitliche Gründe seien ein häufiges Abschiebehindernis.

Fazit

Insgesamt zeigen diese Indizien, wenngleich die Datenlage nach wie vor nicht als valide bezeichnet werden kann, dass die meisten Ausreisepflichtigen ausreisen und diejenigen, die noch in Deutschland leben, legitime Gründe haben. Dass selbst bei rechtlichen Abschiebehindernissen weiterhin eine Ausreisepflicht besteht, ist schwer verständlich oder gar widersprüchlich. Es handelt sich bei den ausreisepflichtigen Personen im überjährlichen Vergleich um einen relativ konstanten Anteil von ca. 2 % aller in Deutschland lebenden Menschen ohne deutsche Staatsangehörigkeit, die potentiell ausreisepflichtig sein können. Angesichts von knapp 2 Mio. Asylentscheidungen in den Jahren 2014 bis 2018 ist die Anzahl der noch in Deutschland lebenden, abgelehnten Asylsuchenden mit knapp 6% relativ gering. Die Annahme, abgelehnte Asylbewerber würden in größerer Zahl das Land nicht verlassen und daher das Asylverfahren obsolet machen und die Aufnahmebereitschaft der Bevölkerung beeinträchtigen, lässt sich mit diesen Zahlen nicht belegen.

Damit laufen auch die vorgesehenen Maßnahmen des Geordnete-Rückkehr-Gesetzes zu einem wesentlichen Teil ins Leere und verhindern die Integration von Menschen, die längerfristig oder dauerhaft in Deutschland bleiben werden. Insbesondere ist die Fokussierung des Rückkehrmanagements auf die Landesaufnahmeeinrichtungen für Asylsuchende insbesondere vor dem Hintergrund, dass nur die Hälfte der als ausreisepflichtig gespeicherten Personen abgelehnte Asylsuchende sind, nicht sinnvoll. Im Gesetzentwurf wird festgestellt: „Zwar wurden in den vergangenen Jahren viele Regelungen neu gefasst. Diese haben in der Praxis jedoch nicht immer den gewünschten Erfolg gehabt“. Insofern kommt es darauf ein, die Wirkung der bisherigen Maßnahmen zu evaluieren. Möglicherweise sind Personen, die bei Abschiebungen nicht angetroffen wurden, zum erheblichen Teil nicht mehr in Deutschland. Zudem liegen der Bundesregierung keine Erkenntnisse vor, wie viele Abschiebungen im Jahr 2018 daran gescheitert sind, da Betroffene am Tag der Abschiebung nicht angetroffen werden konnten (vgl. Deutscher Bundestag 2019a, S. 57), worauf die Neuregelungen im Geordnete-Rückkehr-Gesetz abzielen.

Abschiebungen dürfen nicht mehr angekündigt werden, weshalb ein gezieltes Untertauchen nicht mehr möglich ist. Dennoch scheint das Nichtantreffen nicht abgenommen zu haben. Dann würde eine Ausweitung von Ausreisegewahrsam und Abschiebungshaft nicht zum Ziel führen. Es sollte zunächst die Datenlage verbessert werden, um eine valide Ausgangsbasis für geeignete Maßnahmen zu schaffen. Eine geeignete Maßnahme wäre, Menschen, die nicht abgeschoben werden können und aufgrund politischer Vereinbarung zum Beispiel zum Zwecke der Ausbildung und Beschäftigung geduldet werden können bzw. aufgrund von rechtlichen Abschiebehindernissennicht abgeschoben werden können, einen rechtmäßigen Aufenthalt zu ermöglichen und einen Aufenthaltstitel zu erteilen und damit den rechtsstaatlich bedenklichen Status der Kettenduldung zu beenden.

Dr. Sebastian Ludwig
Referent für Flüchtlingsarbeit und Asylpolitik
Diakonie
Deutschland Berlin, 09. April 2019

Fußnoten

1 In ähnlicher Weise zuvor auch schon beispielsweise die Asylpakete I und II und daserste„Gesetz zur besseren Durchsetzung der Ausreisepflicht“.

2 Wenngleich an einer Verbesserung gearbeitet wird (vgl. bspw. Deutscher Bundestag 2019a, S. 78), können viele Fragen weiterhin nicht beantwortet werden. Maßnahmen wurden zum Teil erst kürzlich im Rahmen des 2. Datenaustauschverbesserungsgesetzes umgesetzt, das im Februar 2019 in Kraft getreten ist.

3 Bundesverwaltungsgericht, Urteil v. 25.09.1997, Az.: BVerwG 1 C 11.974

4 „Die Bundesregierung kann keine Aussagen zu den einzelnen Sachverhalten treffen, die der entsprechenden Einspei-cherung im AZR zugrunde lagen. Es liegen auch keine allgemeinen Erkenntnisse vor, wonach in der ausländerbehördlichen Praxis das in der Fragestellung zitierte Urteil des Bundesverwaltungsgerichts nicht hinreichend berücksichtigt würde.“ (Deutscher Bundestag 2017, S. 14).

5 Für 2018 gibt es noch keine Daten, Ende 2017 waren nur 17.979 Personen nach dem Asylbewerberleistungsgesetz leistungsberechtigt, ohne Aufenthaltstitel oder Duldung hattenbei ungefähr gleicher Anzahl aller Ausreisepflichtigen ohne Duldung im AZR (Deutscher Bundestag 2019b, S. 77).

6 Davon beispielsweise 3.163 aus Afghanistan und 2.943 aus Irak (vgl. Deutscher Bundestag 2019b, S. 71).

7 Der Begriff Ausreiseentscheidung bzw. Rückkehrentscheidung entstammt europäischem Recht, Art. 6 Richtlinie 2008/115/EG (Rückführungsrichtlinie) und meint den Verwaltungsakt, bei demfestgestellt wird, dass eine Person sich „illegal“ im Land aufhält und dieses verlassen muss, zum Beispiel durch die Setzung einer Ausreisefrist und Abschie-bungsandrohung nach Fristablauf im Zuge eines ablehnenden Asylbescheides.

8 Ein Asylantrag gilt imAZR auch dann als abgelehnt, obwohl Abschiebungsverbote im Asylverfahren festgestellt werden.Das Speichermerkmal „Asylantrag abgelehnt“ wird auch dann nicht gelöscht, wenn ein Aufenthaltstitel aus anderen Gründen erteilt wird, sondern nur, wenn ein Asylfolgeverfahren durchgeführt wird.

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