Die Ausländerbehörden haben den 50-jährigen Samir C. in sein Heimatland Bosnien abgeschoben. Die Umstände der Abschiebung halten Anwälte für einen Skandal. „So etwas hatten wir in Göttingen noch nicht“, sagt Anwältin Claire Deery.
Es ist kalt in den Straßen von Derventa. Die Wetteraussichten sagen für die kommenden Tage Temperaturen um den Gefrierpunkt in der bosnischen Kleinstadt voraus. Ob Samir C. dort ein Dach über dem Kopf hat, ist ungewiss. Seine Schwester Samira C. fürchtet, dass der 50-Jährige obdachlos ist und dringend benötigte medizinische Betreuung und Medikamente nicht bekommt. Die Göttingerin präsentiert ein verschwommenes Bild, das ihren Bruder in der Stadt zeigen soll. Auf einer dünnen Matte liegt er dort auf einem Steinboden.
Samir C. ist nicht freiwillig in der Stadt im Norden von Bosnien und Herzegowina, die er vor vier Jahren verlassen hat, um in Deutschland eine neue Heimat bei seiner Schwester zu finden. Am Freitag vergangener Woche wurde er nach Bosnien abgeschoben. Freunde oder Verwandte hat er dort nicht.
„Mein Bruder wird auf der Straße sterben“, sagt Samirs Schwester, selbst seit 1992 in Göttingen. Kontakt zu ihm hat sie seitdem kaum. Sie kämpft mit den Tränen. In die Sorgen um ihren Bruder mischen sich Erinnerungen an die Nacht, in der Samir C. von Ausländerbehörde und Polizei abgeholt wurde.
Die Polizei am Bett
Die Polizei und die Mitarbeiter der Ausländerbehörde kommen am 14. Dezember gegen 3 Uhr. Als sie Samir C. nicht in seiner Wohnung antreffen, verschaffen sie sich ungefragt Zutritt zur Wohnung der Schwester, wo Samir C. wie häufig die Nacht verbringt. „Plötzlich stand eine Polizistin an meinem Bett und leuchtete mir mit der Taschenlampe ins Auge“, schildert Samira C.. Rund zwölf Menschen standen in ihrer kleinen Wohnung, die sie mit ihren beiden Söhnen und ihrem Freund bewohnt.
Papiere zeigen sie auch auf Nachfrage nicht vor. Sie durchsuchen die Wohnung, geben Samir C. 20 Minuten Zeit, seine Sachen zu packen, legen ihm Handschellen an und verschwinden mit ihm. Zurück in seine Wohnung, um weitere Sachen einzupacken, darf er nicht. Ob er seine wichtigen Medikamente eingepackt hat, weiß seine Schwester nicht. Am nächsten Morgen sitzt Samir C. im Flugzeug nach Bosnien.
Schlafstörungen und Albträume
Zweimal war Samir C. in Göttingen in stationärer Behandlung. Emotional instabile Persönlichkeitsstörung, posttraumatische Belastungsstörung und schwergradige depressive Episode lautete die Diagnose. Zwei Suizidversuche hat Samir C. hinter sich, der als Soldat im Jugoslawien-Krieg gekämpft und zwei Jahre in serbischer Kriegsgefangenschaft verbracht hat. Schlafstörungen und Albträume sind die Folgen.
„Schnittverletzungen an beiden Armen“, vermerkt der Aufnahmebefund der Klinik. Die Ärzte verschreiben ihm zuletzt Beruhigungsmittel, Schlafmittel und blutdrucksenkende Präparate. Nach Auskunft von Anwältin Claire Deery hatte das Amtsgericht eine gesetzliche Betreuung für Samir C. bestellt, um ihm Hilfestellung bei der Bewältigung des Alltags zu geben.
Stadtverwaltung: „Keinen Anspruch auf Asyl“
Zu den psychischen Erkrankungen kamen in der jüngsten Vergangenheit Herzprobleme hinzu: Verdacht auf eine Verengung der Herzkranzgefäße. Eine Katheteruntersuchung des Herzens in einem Göttinger Krankenhaus war für den 20. Dezember geplant. Wegen der Abschiebung fand sie nicht statt.
Bereits 2015 hatte das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) den Asylantrag von Samir C. abgelehnt. Seine Duldung sei zuletzt im Oktober 2018 verlängert worden, schildert Nina Winter, Sprecherin der Göttinger Stadtverwaltung. „Die Konsequenz lautet: Er muss, da er keinen Anspruch auf Asyl geltend machen konnte, das Land verlassen.“
Stadtverwaltung weist Verantwortung von sich
Winter betont, dass das BAMF Entscheider im vorliegenden Fall sei, die Zuständigkeit vor Ort bei der Landesaufnahmebehörde Niedersachsen liege. „Die Ausländerbehörde der Stadt steht da nicht in der Verantwortung.“
In dem Fall von Samir C., so erläutert Winter, habe das BAMF festgestellt, dass keine Abschiebungsverbote feststanden. Für die Frage der Reisefähigkeit fand im Auftrag der Ausländerbehörde die amtsärztliche Untersuchung statt. „Nach beiden Ergebnissen war die Abschiebung wie ausgeführt rechtlich und tatsächlich möglich, die Rückführung des Betroffenen stand im Einklang mit den gesetzlichen Vorgaben“, erläutert Winter. Für die Beurteilung von Gefahren, „die einer Ausländerin oder einem Ausländer im Rahmen einer Abschiebung in das Heimatland drohen“, sei das BAMF zuständig.
Unterdessen fordert der Göttinger Arbeitskreis Asyl einen unbefristeten Aufenthaltstitel für Samir C.. „Alles andere setzt sein Leben aufs Spiel“, heißt es in einer Erklärung.
Ohne Vorwarnung
Anwältin Deery hält diesen Fall aus zweierlei Gründen für skandalös. Zum einen werde mit Samir C. ein Mann abgeschoben, bei dem richterlich festgestellt wurde, dass er Hilfe im Alltag benötigt. Ob er die in Bosnien bekommt, sei aber unwahrscheinlich, sagt Deery, die auch Vorstandsvorsitzende des Niedersächsischen Flüchtlingsrates ist. Für höchst bedenklich hält sie zudem, dass Polizei und Behörden ohne Vorwarnung in die Wohnung der Schwester von Samir C. eindrangen. „So etwas hatten wir in Göttingen noch nicht“, sagt sie.
Der Anwalt Dietrich Wollschlaeger aus Hannover, der die Schwester vertritt, fragt in dem Fall: „Wie weit darf eine Behörde gehen? Zu was ist dieser Staat noch in der Lage?“ Das Eindringen der Polizei in die Wohnung der Schwester, um ihren Bruder in Gewahrsam zu nehmen, hält Wollschlaeger für „unverhältnismäßig“ und „rechtswidrig“. Schließlich gehe es bei Samir C. nicht um einen Schwerverbrecher oder eine Strafvollstreckung, noch sei Gefahr in Verzug gewesen. Die Unverletzlichkeit der Wohnung sei eine im Grundgesetz verankerte Grundlage unseres Rechtsstaates. Wollschlaeger kündigt Strafanzeige gegen die Polizisten an.
Medizinische Versorgung nicht gesichert
Bosnien gilt der Bundesregierung als sicheres Herkunftsland. Das BAMF sieht für Bosnien keine sogenannten „zielstaatsbezogene Abschiebungsverbote“. Das heißt, es sieht eine kostenlose medizinische Versorgung, auch für Samir C., als gesichert an. Die Praxis sieht in Bosnien wie auf dem gesamten Balkan aber anders aus, wie Kai Weber vom Flüchtlingsrat schildert. Freie medizinische Versorgung gebe es kaum. Gegen finanzielle Zuwendungen bei den entsprechenden Stellen könne die aber erkauft werden. „Was mit den Menschen vor Ort passiert, ist den Ausländerbehörden völlig egal“, sagt Wollschlaeger. Sie seien mit Ankunft auf dem Flughafen sich selbst überlassen.
Deery und Wollschlaeger haben einen zunehmenden Druck bei den Ausländerbehörden festgestellt. Das Vorgehen sei auf Druck des Landes „sehr restriktiv“, sagt Wollschlaeger. „Es ist rauer geworden“, sagt Deery.
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