LSG NRW: Leistungen für Asylbewerber sind verfassungswidrig

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28.07.2010

(Essen.) Das Landessozialgericht Nordrhein-Westfalen (LSG NRW) hat gestern beschlossen, dem Bundesverfassungsgericht die Frage vorzulegen, ob die Leistungen nach dem Asylbewerberleistungsgesetz mit dem Grundgesetz vereinbar sind. Die Essener Richter halten die Leistungen, die seit Schaffung des Asylbewerberleistungsgesetzes 1993 nicht angehoben worden sind, für verfassungswidrig. Im Vergleich zu den Leistungen nach dem SGB II („Hartz-IV“) reichten sie offensichtlich nicht aus, um eine menschenwürdige Existenz zu gewährleisten. Zudem seien die Leistungen nicht in einem Verfahren bemessen worden, wie es das Bundesverfassungsgericht verlange, sondern „ins Blaue hinein“ geschätzt worden. Der vollständige Wortlaut des von Rechtsanwältin Eva Steffen aus Köln erstrittenen Vorlagebeschlusses findet sich hierDas Landessozialgericht hatte über die Klage eines alleinstehenden Mannes aus dem Irak zu entscheiden, der in einer Gemeinschaftsunterkunft für Asylbewerber untergebracht ist und monatlich für seinen gesamten Bedarf außerhalb von Unterkunft, Heizung und Hausrat einen Betrag von 224,97 € erhielt. Im gleichen Zeitraum betrugen das Arbeitlosengeld II („Hartz IV“) oder Sozialhilfe für Alleinstehende monatlich 351,00 € zzgl. Unterkunft und Heizung.

Die Essener Richter hielten die dem Kläger zustehenden Leistungen von monatlich 224,97 € für verfassungswidrig. Sie beriefen sich zur Begründung auf das Urteil des Bundesverfassungsgerichts zu den Hartz-IV-Regelleistungen vom 09.02.2010 (Az. 1 BvL 1/09, 3/09 und 4/09). Das Verfassungsgericht hat darin ein Grundrecht auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums formuliert.

Das LSG entschied, der Gesetzgeber habe den Leistungsbedarf nicht in einem Verfahren bemessen, welches den Anforderungen, die das Bundesverfassungsgericht an eine solche Bemessung stellt, entspricht. Er sei vielmehr „ins Blaue hinein“ geschätzt worden. Bei einem so deutlichen Abweichen der Leistungen für Asylbewerber von den Hartz-IV-Leistungen könne zudem davon ausgegangen werden, dass die Leistungen offensichtlich nicht ausreichten, um das menschenwürdige Existenzminimum sicherzustellen.

Weil es das zu Grunde liegende Gesetz für verfassungswidrig hält, hat das Landessozialgericht das Klageverfahren ausgesetzt und die Frage nach der Rechtmäßigkeit der Bedarfssätze nach dem Asylbewerberleistungsgesetz dem Bundesverfassungsgericht vorgelegt. Sollte sich das Bundesverfassungsgericht der Ansicht der Essener Richter anschließen, müsste der Gesetzgeber die Höhe der Sätze nach dem Asylbewerberleistungsgesetz neu regeln.  (Beschluss vom 26.07.2010, Az. L 20 AY 13/09).

hier

http://www.fluechtlingsinfo-berlin.de/fr/pdf/LSG_NRW_Vorlagebeschluss_AsylbLG.pdf

ist der vollständige Wortlaut des von RAin Eva Steffen aus Köln
erreichten Vorlagebeschlusses des LSG NRW zum AsylbLG. Zum Inhalt des
Beschlusses vgl. die Pressemeldung des LSG
http://www.justiz.nrw.de/Presse/presse_weitere/PresseLSG/28_07_2010/index.php
Das LSG NRW hält die Beträge nach § 3 Abs 2 AsylbLG (hier: für einen
Alleinstehenden) sowie der Barbetrag nach § 3 Abs 1 AsylbLG für
verfassungswidrig.

Das Bundesverfassungsgericht wird nun zu prüfen haben, ob die Beträge
des AsylbLG verfassungskonform sind.

Die Beträge nach § 3 AsylbLG sind nach Auffassung des LSG NRW bereits
der Höhe nach evident unzureichend, da die Regelsätze nach SGB II/XIIum
31 % unterschritten würden. Die Beträge seien zudem von vorneherein
willkürlich festgelegt worden. Die Bundesregierung konnte dem LSG trotz
mehrfacher Nachfragen nicht die Gründe dafür darlegen, weshalb seit 1993
niemals eine Anpassung der Beträge an die Preissteigerung vorgenommen
wurde.

§ 3 AsylbLG entspricht daher nach Auffassung des LSG nicht den
Anforderungen des Bundesverfassungsgerichts-Urteils vom 09.02.2010
http://www.bundesverfassungsgericht.de/pressemitteilungen/bvg10-005.html
an die aus Art 1 und 20 Grundgesetz (Menschenwürde, Sozialstaat)
abzuleitenden  Anforderungen bei der Festlegungen der Leistungen zur
Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums.

Der aus dem Irak stammende Kläger lebt seit 2003 in Deutschland. Er wird
nach Ablehnung seines Asylantrags aus tatsächlichen Gründen geduldet.
Infolge der Verlängerung der Wartefrist des § 2 AsylbLG von 36 auf 48
Monate und des BSG-Urteils vom 17.06.2008 zur Umsetzung dieser
Fristverlängerung hatte das Sozialamt Eschweiler die Leistungen des
Klägers, der bereits seit 2006 Leistungen nach § 2 AsylbLG in Höhe der
Sozialhilfe nach dem SGB XII erhielt, vom 1.1.2009 bis 31.12.2009 erneut
auf das Niveau des § 3 AsylbLG gekürzt, um so die auf 48 Monate
verlängerte Wartefrist zu erfüllen. Diese mangels Übergangsregelung
vorgenommene Kürzung hält das LSG grundsätzlich für rechtens.

Das LSG hat sich nicht mit der Frage befasst, ob die Leistungen nach
AsylbLG für Kinder ausreichend sind, und ob auch Ausländer mit
Aufenthaltserlaubnis ins AsylbLG einbezogen werden dürfen – der
vorliegende Fall gab dazu keinen Anlass. Ggf. wären daher in
entsprechenden Fällen weitere Vorlagebeschlüsse anzustreben.

Lesetipp, falls sich jemand von den 50 Seiten des LSG-Vorlagebeschlusses
überfordert fühlt: „Hinten“ anfangen, die zentralen Ausagen des
Vorlagebeschlusses finden sich ab Seite 34!

Mit freundlichen Grüßen

Georg Classen

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