von Claudius Voigt, GGUA
Die Einführung des Leistungsausschlusses nach § 1 Abs. 4 Nr. 2 AsylbLG für Dublin-Fälle im Oktober 2024 ist eine der schändlichsten Entscheidungen der früheren Ampel-Koalition gewesen. Obwohl damals viele Fachleute schon darauf hingewiesen hatten, dass der Leistungsausschluss unionsrechtlich und verfassungsrechtlich unhaltbar sein dürfte und zur staatlich organisierten Verelendung von Menschen führen wird, hatten SPD, Grüne und FDP den Ausschluss – neben vielen anderen Verschärfungen – beschlossen. Der jetzigen Koalition aus CDU/CSU und SPD geht der Ausschluss derweil immer noch nicht weit genug, so dass schon die nächste Ausweitung im Rahmen des GEAS-Anpassungsgesetzes geplant ist. Währenddessen leiden Betroffene ganz konkret, werden aus den Unterkünften in die Obdachlosigkeit geworfen, wissen nicht, wie sie ihr Essen bezahlen oder ihre Kinder versorgen sollen. Verschärft wird das Ganze dadurch, dass Bund und Länder momentan kaum ein anderes Ziel haben, als Dublin-Geflüchtete umfassend zu entrechten und ihnen systematisch die Duldung verweigert wird. Sie werden zu einem Leben in einer aufenthalts- und sozialrechtlichen Schattenwelt gezwungen. Eine Schande für den sozialen Rechtsstaat Deutschland!
Juristisch und politisch hat es dazu hat in den letzten Monaten ganz interessante Entwicklungen gegeben. Hier der Versuch eines Überblicks:
- Die Sozialgerichte halten den Leistungsausschluss weit überwiegend für unzulässig. Fast alle Eilentscheidungen sprechen den Betroffenen vorübergehend existenzsichernde Leistungen zu. Argumente sind im Wesentlichen: Der Leistungsausschluss ist unionsrechtlich und verfassungsrechtlich voraussichtlich unzulässig, eine freiwillige und selbstinitiierte Ausreise ist in Dublin Fällen nicht möglich. Mittlerweile haben schon mindestens zwei Landessozialgerichte diese Haltung inhaltlich bestätigt (LSG Hessen, Beschluss vom 1. Oktober 2025; L 4 AY 5/25 B ER und LSG Niedersachsen-Bremen; Beschluss vom 13. Juni 2025; L 8 AY 12/25 B ER). Einzig das LSG Thüringen hatte in einer Entscheidung vom 16. Mai 2025 den Ausschluss für unproblematisch gehalten. Mit diesem schlampigen Beschluss hat sich Volker Gerloff im Asylmagazin 9/2025 ausführlich auseinandergesetzt. Die Kolleg*innen am Sozialgericht Magdeburg halten sich in einem Beschluss vom 17. September 2025 ebenfalls nicht mit Kritik an den thüringischen Richter*innen zurück: „Die Entscheidung des Thüringer Landessozialgericht vom 16.05.2025 (…) überzeugt im Ergebnis nicht. Eine Begründung, weshalb der Senat – trotz einer Vielzahl anderslautender Entscheidungen – keine Zweifel an der Unions- und Verfassungskonformität hegte, enthält der Beschluss nicht“.
Mittlerweile sind mir über 70 sozialgerichtliche Eilentscheidungen bekannt, in denen der Leistungsausschluss für vorläufig unanwendbar erklärt wird. Eine aktuelle Übersicht zu den bekannten Gerichtsbeschlüssen gibt es hier. - Der Sozialausschluss der Vereinten Nationen hält den Leistungsausschluss voraussichtlich für menschenrechtswidrig. Die Gesellschaft für Freiheitsrechte (GFF) hatte mit einer Person aus Thüringen überhaupt zum ersten Mal ein Individualbeschwerdeverfahren wegen Verletzung des UN-Sozialpakts angestrengt, nachdem das Sozialamt ihm Unterkunft, Gesundheitsversorgung, Essen usw. vollständig verweigert. Bei allen nationalen Gerichten ist der Betroffene gescheitert (unter anderem erging in diesem Fall die oben genannte Entscheidung des LSG Thüringen). Das Verfahren beim UN-Sozialausschuss ist noch nicht abgeschlossen. Aber der UN-Sozialausschuss hat Deutschland aufgefordert, vorläufig wieder Unterkunft und Existenzminimum sicherzustellen – ein Hinweis darauf, dass der Leistungsausschluss kaum für menschenrechtskonform gesehen werden dürfte. Bei der GFF gibt es ausführliche Informationen zu dem Verfahren. Außerdem gibt es einen Bericht von tagesschau.de, wie Bundesregierung und Kommunalverwaltung versuchen, die Verpflichtung des UN-Sozialausschusses auszusitzen.
- Der EuGH hält Leistungsausschluss und -kürzungen voraussichtlich für unionsrechtswidrig. Das Bundessozialgericht hatte in einem Beschluss vom 25. Juli 2024 (B 8 AY 6/23 R) dem EuGH in einem Vorabentscheidungsersuchen die Frage vorgelegt, ob die früheren Leistungskürzungen nach § 1a Abs. 7 AsylbLG (alte Fassung) unionsrechtswidrig sind. Diese Kürzungen gibt es zwar nicht mehr, dafür aber jetzt den noch weitergehenden Leistungsausschluss. Es liegt auf der Hand, dass die Entscheidung des EuGH zu den Kürzungen auch für den aktuellen Leistungsausschluss Relevanz haben wird. Der Generalanwalt beim EuGH, Richard de la Tour, hat nun seine Stellungnahme (C‑621/24) zu diesem Verfahren vorgelegt. Der Generalanwalt, dessen Auffassung der EuGH meistens folgt, kommt zu dem Ergebnis: Normalerweise muss ein „angemessener Lebensstandard“ (in Deutschland: das physische und soziale Existenzminimum) gewährleistet werden. Nur in besonderen Ausnahmefällen und nach einer einzelfallbezogenen Ermessensentscheidung darf das reduziert werden auf einen „würdigen Lebensstandard“ (nur das physische Existenzminimum inkl. Kleidung und Gesundheitsversorgung). In Dublin-Fällen ist das aktuell nur zulässig, wenn der Asylantrag im zuständigen Staat bereits bestandskräftig abgewiesen wurde. Demnach ist ein vollständiger Leistungsausschluss entsprechend der aktuell geltenden EU-Aufnahmerichtlinie (RL 2013/33 EU) immer unzulässig. Aber auch nach Umsetzung der neuen EU-Aufnahmerichtlinie (RL 2024/1346) im Juni 2026 wird der Leistungsausschluss unzulässig bleiben. Denn der „würdige Lebensstandard“ muss auch dann eingehalten werden, da sich dieser aus der EU-Grundrechtecharta ergibt und diese gem. Art. 21 der neuen Aufnahmerichtlinie ausdrücklich zu beachten ist. Constantin Hruschka setzt sich damit ausführlich in seinem Artikel „Mehr als ein Recht auf Überleben“ Die Entscheidung des EuGH wird für Anfang 2026 erwartet.
- Der Verwaltungsgerichtshof Bayern hält das Erlöschen der Aufenthaltsgestattung mit dem Überstellungsbescheid für unionsrechtswidrig. Dadurch wäre auch der Leistungsausschluss nicht anwendbar, da dieser nur für vollziehbar ausreisepflichtige Personen ohne Duldung oder Aufenthaltsgestattung zulässig ist. Der VGH Bayern hat in einem Urteil vom 21. Mai 2025 (19 B 24.1772) entschieden, dass die deutsche Regelung des § 67 Abs. 1 Satz 1 Nr. 5 AsylG (wonach die Aufenthaltsgestattung mit Vollziehbarkeit einer Abschiebungsanordnung automatisch erlischt) mit Art. 9 Abs. 1 Satz 1 der Asylverfahrens-RL nicht vereinbar ist. Denn dieser verlangt ein „Recht auf Verbleib“, bis inhaltlich über den Asylantrag entschieden wurde. Die Dublin-Entscheidung ist aber keine inhaltliche Entscheidung. Der VGH Bayern ordnete daher an, dass der Aufenthalt weiter als gestattet gilt, sondern fortbesteht, da die deutsche Regelung wegen Vorrang des EU-Rechts unangewendet bleiben muss. In der Folge ist in diesen Fällen der Leistungsausschluss nicht anwendbar, weil dieser nur greift, wenn eine Person vollziehbar ausreisepflichtig ist, ohne eine Aufenthaltsgestattung oder Duldung zu besitzen. Die baden-württembergische Landesregierung hat zwischenzeitlich in Reaktion auf dieses Urteil des VGH Bayern seinen Ausländerbehörden in einem Erlass offen kommuniziert, dass die Ausländerbehörden die Rechtsprechung des VGH aus Bayern ignorieren sollten. Denn andernfalls hätten die Betroffenen ja Rechte, die man ihnen doch eigentlich komplett verweigern will: „Dieser Umstand würde zu zahlreichen Folgeproblemen in den Bereichen Rückführungen, Aufenthaltsrecht, Dokumentenwesen und Leistungsrecht führen. Der Auffassung des Bayerischen VGH soll daher bis auf Weiteres nicht gefolgt und an dem im Schreiben vom 20. Mai 2025 dargestellten Verfahren festgehalten werden.“ Das baden-württembergische Innenministerium gibt den Behörden ein „Argumentationspapier“ an die Hand, mit dem die Verwaltungs- und Sozialgerichte im Sinne der Ministeriumsauffassung bearbeitet werden sollen. Dennoch ist die VGH-Bayern-Entscheidung ein wichtiger Ansatzpunkt auch in sozialgerichtlichen (Eil-)Verfahren gegen einen Leistungsausschluss. So hat das Sozialgericht Magdeburg in einem Beschluss vom 17. September 2025 (S 31 AY 72/25 ER) den Leistungsausschluss unter anderem deswegen für voraussichtlich unzulässig erklärt, weil „einiges dafür spricht, dass der Antragsteller weiterhin nach § 1 Abs. 1 Nr. 1 AsylbLG leistungsberechtigt ist. Seine Aufenthaltsgestattung dürfte bis zum Ablauf der Überstellungsfrist nach Art. 29 EUVO 604/2013 (Dublin-III-VO) bzw. bis zu einer zuvor erfolgten Überstellung des Antragstellers oder seiner Ausreise nach Spanien aufgrund eines unionsrechtlichen Bleiberecht nach Art. 9 Abs. 1 S. 1 EURL 2013/32 (Asylverfahrens-RL) fortbestehen (vgl. dazu BayVGH, Urteil vom 21. Mai 2025 – 19 B 24.1772, RN 18 f. und 40 ff.).“
- Nach den Plänen der Bundesregierung sollen Leistungsausschlüsse dennoch ausgeweitet werden. So sieht der Entwurf zum GEAS-Anpassungsgesetz vor, dass in § 1 Abs. 4 Nr. 2 AsylbLG die (zusätzliche) Voraussetzung gestrichen werden soll, dass „nach der Feststellung des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge die Ausreise rechtlich und tatsächlich möglich ist“. Stattdessen soll künftig die Abschiebungsanordnung allein ausreichen, da „somit durch das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge auch die rechtliche und tatsächliche Möglichkeit der Ausreise bereits geprüft wurde“. Dies ist aber offensichtlich unzutreffend, da die rechtliche und tatsächliche Möglichkeit einer freiwilligen Ausreise im Dublin-Bescheid keineswegs geprüft wurde und sie vielmehr in aller Regel gerade nicht möglich ist. Hilfreiche Ausführungen zu dieser Frage hat Philipp Wittmann in seiner Stellungnahme zum GEAS-Anpassungsgesetz gemacht (ab S. 120). Und ein weiterer Leistungsausschluss ist in § 1 Abs. 4 AsylbLG bereits in Vorbereitung: Geflüchtete aus der Ukraine, die schon vorübergehenden Schutz in einem anderen EU-Staat haben, sollen nach dem Entwurf zum „Leistungsrechtsanpassungsgesetz“ von jeglichen Leistungen ausgeschlossen werden, wenn sie vollziehbar ausreisepflichtig ohne Duldung sind und der vorübergehende Schutz in dem anderen EU-Staat fortbesteht und sie hier (weil sie den Antrag nach dem 13. August 2025 gestellt haben) keinen § 24 AufenthG erhalten.
Der Ausschluss von jeglichen existenzsichernden Leistungen, die gesetzlich normierte Verelendung von Menschen ohne Anspruch auf Obdach, Gesundheitsversorgung, Ernährung – kurz: das Aushungern aus dem Bundesgebiet – sollen also mehr noch als zuvor ein probates Instrument für die Umsetzung der „Migrationswende“ sein. Aufgrund der medialen und politischen Vorbereitung dürfen wir fest davon ausgehen, dass im kommenden Jahr auch die Leistungsausschlüsse für Unionsbürger*innen nochmals ausgeweitet werden. Die Schutzfunktionen der sozialen Menschenrechte und sozial-rechtsstaatliche Prinzipien sollen also für immer größere Bevölkerungsgruppen ohne deutsche Staatsangehörigkeit keine Gültigkeit mehr haben.
Noch halten die Sozialgerichte und andere Institutionen dagegen. Wie lange aber diese Resilienz gegen den konzertierten, von Nationalismus und Sozialstaatsfeindlichkeit geprägten Angriff auf die universelle Gültigkeit sozialer Menschenrechte noch Bestand haben wird, bleibt abzuwarten.
Welch ein zivilisatorischer Rückschritt!
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