Rot-grüner Koalitionsvertrag bringt neue Dynamik in die Flucht- und Migrationspolitik

Der Koalitionsvertrag der zukünftigen rot-grünen Landesregierung steht: In Rekordzeit haben die beiden zukünftigen Regierungsparteien sich auf ein gemeinsames Programm für die kommenden fünf Jahre geeinigt.  Eine ganze Reihe von Forderungen des Flüchtlingsrats sollen in der kommenden Legislaturperiode umgesetzt werden. Aus Sicht des Flüchtlingsrats sind nachfolgende Punkte besonders positiv zu bewerten.

  • Die Landesregierung will ein Landes-Antidiskriminierungsgesetz beschließen und niedrigschwellige Angebote für Betroffene von Diskriminierung schaffen
  • Ein Teilhabe- und Partizipationsgesetz soll die systematische Einbeziehung von eingewanderten Menschen gewährleisten.
  • Die Finanzierung der Migrationsberatung in Niedersachsen soll verstetigt und dauerhaft auskömmlich abgesichert werden. Dazu gehört auch die Absicherung einer unabhängigen Asylverfahrensberatung durch freie Träger an allen Standorten der Landesaufnahmebehörde in Kooperation mit dem Bund.
  • Gemeinsam mit Ausländerbehörden interessierter Kommunen sollen Pilotprojekte für rechtskreisübergreifende Migrationszentren initiiert werden.
  • Das Modellprojekt des Flüchtlingsrats „Wege ins Bleiberecht“ soll flächendeckend ausgerollt werden: Geflüchtete, die die zeitlichen Voraussetzungen für ein Bleiberecht erfüllen, sollen dabei unterstützt werden, die Bedingungen für ein Aufenthaltsrecht zu erfüllen.
  • Die Voraussetzungen für ein humanitäres Bleiberecht für Opfer rechter Gewalt werden „geprüft“.
  • Die Einführung einer Gesundheitskarte (Chipkarte) für alle Geflüchteten ist ebenfalls vorgesehen (Prüfauftrag).
  • Eine Gleichbehandlung aller Geflüchteten soll gewährleistet werden. Wörtlich heißt es im Koalitionsvertrag: „Wir wollen, dass alle ankommenden Geflüchteten in Niedersachsen gleichbehandelt werden und ihnen möglichst schnell ein selbstbestimmtes Leben ermöglicht wird. Wir wollen uns an der unbürokratischen Aufnahme geflüchteter Ukrainerinnen und Ukrainer orientieren.“
  • Ein Abschiebungshaftvollzugsgesetz soll kommen, eine Beratung von Abschiebungshäftlingen sichergestellt werden. Personen, gegen die Abschiebehaft beantragt wird, bekommen einen staatlich finanzierten Pflichtanwalt zur Seite gestellt. Auch eine unabhängige Beratung in der Abschiebungshaft ist vorgesehen. Die Entschädigung für erlittene rechtswidrige Abschiebehaft soll gesetzlich geregelt werden. Minderjährige, Familien mit Kindern und andere schutzbedürftige Personengruppen werden nicht in Abschiebehaft genommen.
  • Es darf ausdrücklich keine Abschiebungen aus Kitas, Schulen und Frauenhäusern geben.
  • Frauenorganisationen sollen stärker eingebunden werden. Die Einhaltung der Istanbul-Konvention soll „konsequent umgesetzt“ werden. Eine Koordinierungsstelle soll Gewaltschutz als ressortübergreifende Aufgabe verankern, ein regelmäßiges Monitoring die Umsetzung überwachen. Den Landesaktionsplan zur Bekämpfung von Gewalt an Frauen will die Landesregierung weiterentwickeln und umsetzen.
  • Kinderrechte sollen gestärkt, Kinderschutz soll überall grundlegend gewährleistet werden. In einem Kinderschutzgesetz sollen landesrechtliche Vorschriften gebündelt und überarbeitet werden.
  • Die Landesregierung will den Schulbesuch außerhalb der Erstaufnahmeeinrichtungen für alle geflüchteten Kinder und Jugendlichen ab dem Beginn ihres Aufenthalts sicherstellen. Wenn abweichend in Erstaufnahmeeinrichtungen beschult werden muss, soll ein qualitativ hochwertigen Unterricht gewährleistet werden.
  • Die Altersobergrenze beim Modellprojekt „Sprach- und Integrationsprojekt für jugendliche Flüchtlinge“ (SPRINT) wird flexibilisiert, um auch jungen Leuten über 21 Jahren die Teilnahme zu ermöglichen, damit der Übergang in eine Ausbildung gelingt.
  • „Integrationsangebote“ und Sprachkurse will die Landesregierung bedarfsgerecht ausbauen und weiterentwickeln und Menschen unmittelbar nach ihrer Ankunft in Deutschland unabhängig vom Aufenthaltsstatus anbieten. Spezifische Kinderbetreuung will die Koalition fördern.
  • Den sozialen Wohnungsbau wollen SPD und Grüne wieder in staatliche Hand nehmen. Eine Landeswohnungsbaugesellschaft soll Wohnungen kaufen, bauen und vermieten, um mehr bezahlbaren Wohnraum bereitstellen zu können. Mit einem Landesprogramm will die Landesregierung Obdach- und Wohnungslosigkeit bekämpfen und sogenannte Housing-First-Projekte fördern und dabei auch auf die besonderen Belange von Frauen eingehen.
  • Rot-Grün will eine Kennzeichnungspflicht für Polizeikräfte in geschlossenen Einsätzen einführen und eine unabhängige Beschwerdestelle schaffen
  • Das Netzwerk für traumatisierte Flüchtlinge in Niedersachsen (NTFN), die Verbände von Migrantinnen und Migranten und der Flüchtlingsrat werden „in Anerkennung ihrer wertvollen Arbeit“ finanziell abgesichert, „damit sie ihre Brückenfunktion nachhaltig erfüllen können“.

Folgende Vereinbarungen hält der Flüchtlingsrat für nicht ausreichend:

  • Ein Landesaufnahmeprogramm wird leider auf den Sankt-Nimmerleins-Tag verschoben: „Um gefährdeten Menschen Sicherheit und eine Perspektive in Niedersachsen zu geben, wollen wir in bewährter Koordination mit den Kommunen ein Landesaufnahmeprogramm aufsetzen, wenn sich die Engpässe bei den Aufnahmekapazitäten entspannt haben. Wir wollen ein Schutzprogramm für Menschenrechtsverteidigerinnen und Menschenrechtsverteidiger einrichten.“
  • Für Sammelunterkünfte sollen zukünftig Mindeststandards gelten. In der Koalitionsvereinbarung heißt es irreführend, man werde „die entwickelten Mindeststandards bei Geflüchtetenunterkünften … fortschreiben“ – bislang gibt es für die Kommunen in Niedersachsen jedoch keinerlei Vorgaben für die Unterbringung. Standards gibt es vom BMFSFJ (siehe Mindeststandards zum Schutz von geflüchteten Menschen in Flüchtlingsunterkünften), die jedoch in Niedersachsen nicht bindend sind. Die Einhaltung solcher Standards will die Landesregierung nicht etwa anordnen und fachaufsichtlich durchsetzen, sondern auf ihre Einhaltung „zusammen mit den Kommunen weiterhin hinwirken“. Das ist zu wenig.
  • Es fehlt die von uns geforderte flächendeckende Einführung eines anonymen Krankenscheins. In der Koalitionsvereinbarung heißt es lediglich: „Menschen ohne Krankenversicherung wollen wir den Zugang zur medizinischen Regelversorgung erleichtern. Dazu prüfen wir, wie wir bestehende oder zukünftige Beratungsangebote beziehungsweise Clearingstellen an ausgewählten zentralen Orten, die bereits Menschen in Krankenversicherung oder Gesundheitsversorgung bringen, unterstützen können.“
  • Eine Initiative zur Abschaffung des Asylbewerberleistungsgesetzes hat sich die Landesregierung  – trotz der versprochenen Gleichbehandlung aller Geflüchteten – leider nicht auf die Fahnen geschrieben. Im Koalitionsvertrag heißt es dazu: „Wir unterstützen die Absicht des Bundes, das Asylbewerberleistungsgesetz im Lichte der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts weiterzuentwickeln.“

Anhang: Koalitionsvertrag

Bitte schreiben Sie an dieser Stelle nur allgemeine Kommentare.
Wenn Sie individuell Beratung und Unterstützung brauchen, wenden Sie sich bitte an ...

Schreibe einen Kommentar

Jetzt spenden und unsere Arbeit unterstützen!