GREVIO-Bericht: Was Deutschland zum Schutz geflüchteter Frauen und Mädchen tun muss

Anfang Oktober 2022 hat der Kontrollausschuss des Europarats GREVIO seinen ersten Bericht zur Umsetzung der Istanbul Konvention in Deutschland veröffentlicht. Darin bemängelt GREVIO etliche Umsetzungslücken, besonders im Hinblick auf Geflüchtete. Die Bundesregierung muss nun reagieren.

Damit hat die Bundesregierung vom Europarat mit Blick auf Geflüchtete einige Hausaufgaben erhalten:

  • Sichere Unterbringung: Die Unterbringung vieler asylsuchender Frauen ist laut GREVIO »nicht dazu geeignet, ihnen ein Gefühl der Sicherheit zu vermitteln«. (358)* Die Unterkünfte böten auch nicht die Bedingungen, unter denen Frauen und Mädchen, die vor geschlechtsspezifischer Verfolgung geflohen sind, ihre Erlebnisse verarbeiten könnten, um sie im Rahmen einer Asylanhörung vorzubringen. GREVIO fordert die deutschen Behörden dazu auf, sicherzustellen, dass alle asylsuchenden Frauen und Mädchen eine angemessene und sichere Unterbringung erhalten, unter anderem durch Umsetzung standardisierter Gewaltschutzkonzepte (»Protokolle«).
    Die Forderung nach flächendeckenden, verbindlichen Gewaltschutzstandards in den Unterkünften für Geflüchtete teilen viele zivilgesellschaftliche Organisationen. PRO ASYL hat gemeinsam mit einigen Flüchtlingsräten im Schattenbericht von Juli 2021 darüber hinaus analysiert, dass die Unterbringung in so genannten Gemeinschaftsunterkünften dem Gewaltschutz von Frauen generell zuwider läuft und die Unterbringung in normalen Wohnungen das Ziel sein muss.
  • Zugang zu Hilfe und Fachdiensten: Das Hilfesystem – von der Fachberatung bis zur Traumatherapie – ist allgemein durch den Mangel an Plätzen und Finanzierung gekennzeichnet. GREVIO fordert einen Ausbau des Hilfesystems. Der Ausschuss weist auf die Belastungen gerade asylsuchender Frauen hin, die im Herkunftsland und auf der Flucht häufig dramatische Gewalterfahrungen gemacht haben, und thematisiert ihren eingeschränkten Zugang zu Gesundheitsdiensten: »GREVIO ist der Ansicht, dass mehr getan werden muss, um die Barrieren beim Zugang zu Gesundheitsdienstleistungen für Frauen mit Behinderungen und Asylbewerberinnen zu beseitigen.« (150) Es gebe »zahlreiche Beispiele, in denen Frauen und Mädchen keinen oder nur schwer Zugang zu spezialisierten Unterstützungsdiensten für Erfahrungen mit sexueller Gewalt, häuslicher Gewalt und anderer geschlechtsspezifischer Gewalt haben. (…) Es ist dringend erforderlich, dass ihr Zugang zu Dienstleistungen landesweit und in jedem Asylbewerberheim und jeder Unterkunft sichergestellt wird.« (161)
  • Identifizierung und Versorgung von Frauen mit Gewalterfahrung: Die Praxis in Deutschland gleicht einem Flickenteppich – landesweit standardisierte Leitlinien für die Identifizierung vulnerabler Geflüchteter gibt es nicht. Sie werden bei ihrer Ankunft auch nicht routinemäßig auf Traumata oder Langzeitfolgen von Erfahrungen mit geschlechtsspezifischer Gewalt untersucht. GREVIO »appelliert nachdrücklich« an die deutschen Behörden, »standardisierte Versorgungswege zu implementieren, die die Identifizierung (…), das Screening, die Diagnose, die Behandlung, die Dokumentation von Verletzungen und die Überweisung an die entsprechenden spezialisierten Unterstützungsdienste umfassen.« (150)
    Aus dieser Aufforderung folgt: Sämtliche beteiligten Behörden sind hier gemeinsam in der Pflicht, geflüchtete Frauen mit ihren Gewalterfahrungen nicht nur zu identifizieren, sondern auch alle notwendigen Unterstützungsleistungen (wie etwa Psychotherapie, medizinische Behandlung, Fachberatung) sicherzustellen. Eine alleinige Verlagerung der Identifizierungsprozesse in die Hände von Nichtregierungsorganisationen, etwa im Rahmen der von der Bundesregierung geplanten unabhängigen Asylverfahrensberatung, ist nicht ausreichend.
  • Behördenübergreifende Unterstützungsstrukturen: Gute Projekte der behördlichen Zusammenarbeit gibt es. Sie beziehen sich laut GREVIO aber fast ausschließlich auf häusliche Gewalt, weniger auf sexuelle Gewalt, Zwangsheirat, Femizide und andere von der Istanbul Konvention erfasste Gewaltformen. GREVIO kritisiert insbesondere das Fehlen geeigneter Unterstützungsstrukturen für geflüchtete Frauen in den Erstaufnahmeeinrichtungen: »Und schließlich gibt es überhaupt keine behördenübergreifende Zusammenarbeit, wenn es um asylsuchende Frauen in Aufnahmezentren geht.« (131) Manchen Gruppen bräuchten zudem einen »proaktivere(n) Ansatz, um sie über ihre Rechte und darüber zu informieren, wo sie Hilfe finden können (…) beispielsweise durch Informationspakete für neu angekommene asylsuchende Frauen und Migrantinnen.« (140)
  • Kritik an Wohnsitzauflagen und mangelndem Zugang zu Schutzräumen: Viele asylsuchende Frauen dürfen ihren Wohnort nicht ohne Weiteres verlassen. »Ernsthaft besorgt« zeigt sich GREVIO deshalb beim Thema Frauenhäuser und moniert »strukturelle Hindernisse« aufgrund komplexer Finanzierungsanforderungen verbunden mit strengen Wohnsitzauflagen.« (172) Nur in wenigen Bundesländern funktioniert die Aufnahme. (173) GREVIO fordert die deutschen Behörden auf, Zahl und Verteilung der Schutzräume für Opfer häuslicher Gewalt zu erhöhen, so dass auch »asylsuchende Frauen und solche mit einem unsicheren Aufenthaltsstatus – kostenlosen Zugang zu speziellen Schutzräumen für häusliche Gewalt haben«. (177) GREVIO appelliert außerdem nachdrücklich, in den Unterkünften die Anwendung des Gewaltschutzgesetzes sicherzustellen. (326) Nach diesem Gesetz können zum Beispiel gerichtliche Schutzanordnungen Frauen helfen, Gewalttäter aus dem sozialen Umfeld fernzuhalten.
  • Anerkennung geschlechtsspezifischer Verfolgung: GREVIO weist auf die Kritik an der Anerkennungspraxis des Bundesamtes zur geschlechtsspezifischen Verfolgung hin. Zwar kann eine Verfolgungshandlung, die allein an das Geschlecht anknüpft, laut Asylgesetz zu einer Anerkennung führen, in der Praxis des BAMF reicht dieser Umstand jedoch regelmäßig nicht aus. Zudem wird geschlechtsspezifische Verfolgung im familiären Umfeld oft als unpolitisch und damit als nicht asylrelevant eingestuft. GREVIO nimmt Bezug auf das so genannte Non Refoulement- Gebot, das – neben der GFK – auch in der Istanbul-Konvention enthalten ist: Verfolgte Menschen dürfen nicht in Länder abgeschoben werden, in denen ihr Schutz nicht gewährleistet ist. Das Versagen bei der Durchführung systematischer Gefährdungsbeurteilungen könne, so GREVIO, »zu Abschiebungen führen (…) und somit einen Verstoß gegen die Verpflichtung zur Nichtzurückweisung darstell(en)«. (372)
  • Unabhängiges Aufenthaltsrecht: Mit Blick auf etwaige Partnerschaftsgewalt appelliert GREVIO »nachdrücklich« an die deutschen Behörden, »allen Frauen in Deutschland (…) die Möglichkeit zu geben, eine eigenständige Aufenthaltserlaubnis zu beantragen«. Deutlicher wird GREVIO an dieser Stelle nicht – möglicherweise deshalb, weil die alte Bundesregierung bei der Ratifizierung der Konvention Vorbehalte gegen Art. 59 Abs. 2 und 3 IK eingelegt hat, die mit diesem Thema in Zusammenhang gebracht werden können. Tatsächlich sind etliche geflüchtete Frauen von der Aufenthaltserlaubnis ihres Mannes abhängig – bei einer Trennung droht der Absturz der Frauen in die rechtliche und soziale Bodenlosigkeit. Die im Aufenthaltsgesetz verankerte Härtefallregelung funktioniert in der Praxis nicht gut. Eine Regelung, die allen Frauen nach einer gewissen Zeit ein vom Mann unabhängiges Aufenthaltsrecht einräumt, wäre ein großer Fortschritt. Außerdem hinaus sollte die Bundesregierung endlich auch ihre Vorbehalte gegen Istanbul Konvention fallenlassen.
  • Ausbau der Datenerfassung zur Gewalt gegen Frauen. Mit der von der Bundesregierung geplanten Einrichtung einer Monitoringstelle beim Deutschen Institut für Menschenrechte ist künftig hoffentlich ein deutlich besserer Einblick in die Datenlage zur Gewalt gegen Frauen zu erwarten – wenn denn die Daten von den jeweiligen Behörden zur Verfügung gestellt werden: Im Asylverfahren beispielsweise wird vom BAMF bislang nur eine einzige Zahl veröffentlicht: die der Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft aufgrund geschlechtsspezifischer Verfolgung. Unbekannt ist etwa, wie viele Frauen und Mädchen subsidiären Schutz oder Abschiebungsverbote aufgrund von geschlechtsspezifischer Gewalt erhalten, und wie viele trotz solcher Erfahrungen abgelehnt werden. Für das BAMF ergibt sich aus dem Bericht von GREVIO künftig die Aufgabe, »ein Datenerfassungssystem einzuführen, das die Registrierung und den Ausgang von Asylanträgen ermöglicht, die aufgrund von geschlechtsspezifischer Verfolgung gestellt werden« (12).

Das Vertragsstaatenkomitee der Istanbul Konvention wird voraussichtlich im Dezember 2022 auf der Grundlage des GREVIO-Berichts Empfehlungen an Deutschland verabschieden. Dann erhält die deutsche Regierung eine Frist von drei Jahren zur Umsetzung.

Die Bundesregierung selbst hat in ihrem Koalitionsvertrag angekündigt, die Istanbul Konvention »vorbehaltlos und wirksam« umsetzen zu wollen. Die von GREVIO geforderte und von der Bundesregierung versprochene Koordinierungsstelle wie auch eine Monitoringstelle sind erfreulicherweise inzwischen auf dem Weg. Wenn die Bundesregierung es ernst meint mit dem Gewaltschutz von Frauen, hat sie allerdings noch eine Menge mehr zu tun.

*Die Zitate stammen aus der deutschen Übersetzung des BMFSFJ, in Klammern jeweils die laufende Ziffer im Text, hier 358.

_______________________________________________________

weitere Informationen:

Schattenbericht
Zur Umsetzung der Istanbul-Konvention in Bezug auf geflüchtete Frauen und Mädchen in Deutschland

Bitte schreiben Sie an dieser Stelle nur allgemeine Kommentare.
Wenn Sie individuell Beratung und Unterstützung brauchen, wenden Sie sich bitte an ...

Schreibe einen Kommentar

Jetzt spenden und unsere Arbeit unterstützen!