Verwaltungsgericht Göttingen: Massives Polizeihandeln bei Abschiebungsversuch war rechtswidrig

Fünf Jahre nach einer letztlich gescheiterten Abschiebungsmaßnahme gegen einen Somalier im April 2014 nach Italien hat das Verwaltungsgericht Göttingen (AZ 1 A 296/16) das Vorgehen der Polizei an diesem Tag nun als rechtswidrig bewertet. Ein mittlerweile 27-jähriger Beteiligter hatte geklagt. Er war im April 2014 daran beteiligt gewesen, die Abschiebung des Somaliers nach Italien zu verhindern. Polizeibeamt:innen aus Reihen der Beweissicherungs- und Festnahmeeinheit (BFE) hatten den damals 22-Jährigen laut NDR-Berichterstattung mit Reizgas besprüht und geschlagen. Das Gericht sah demnach bei dem Einsatz den Grundsatz der Vorraussehbarkeit polizeilichen Handels als nicht gegeben an. Die Beamt:innen hätten androhen müssen, dass sie Reizgas in einem Treppenhaus einsetzen wollen.

Uwe Lührig, Präsident der Polizeidirektion Göttingen, hat nach dem Urteilsspruch des Verwaltungsgerichts Göttingen bereits angekündigt, Rechtsmittel einlegen zu wollen. Die politische Verantwortung für das den rechtlichen Rahmen überschreitende Handeln der beteiligten niedersächsischen Vollzugsbehörden liegt bei Innenminister Boris Pistorius. Der Flüchtlingsrat Niedersachsen hatte schon in einem Rundschreiben im April 2014 gefragt, warum mit einer solchen Gewaltanwendung versucht werde, um jeden Preis abzuschieben.

Abschiebungen in Niedersachsen werden immer wieder rigoros von den Behörden umgesetzt. Dazu zählen auch Abschiebungen auf Grundlage der Dublin III-Verordnung in andere EU-Mitgliedstaaten, die entgegen aller Vernunft und trotz des Scheiterns des Dublin-Systems sowie der zum Teil rechtswidrigen Aufnahmebedingungen in Staaten wie Griechenland, Italien oder Bulgarien massiv durchgesetzt werden sollen.

Hintergrund der Solidarität der Aktivist:innen bei geplanten Abschiebungen nach Italien sind die seit Jahren völlig unzureichenden Aufnahmebedingungen des italienischen Asylsystems, die zuletzt erneut das ARD-Magazin MONITOR detailliert dargestellt hat. Geflüchtete sind dort von Obdachlosigkeit bedroht und können nicht regelhaft mit staatlicher Unterstützung rechnen, sondern sind auf die Hilfe privater Hilfsorganisationen angewiesen. Gerichte bis hinauf zum Bundesverfassungsgericht haben wiederholt Abschiebungen nach Italien gestoppt. Zum Zeitpunkt der Blockade im Frühjahr 2014 erachteten etwa die Verwaltungsgerichte Braunschweig und Hannover in Gerichtsentscheidungen Abschiebungen nach Italien als rechtlich unzulässig.

Das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge wendet das Dublin‑Verfahren bei möglichen Überstellungen nach Italien jedoch mittlerweile wieder uneingeschränkt an, nachdem zuvor in Folge von Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte aus 2014 Familien mit Kindern zunächst nicht dorthin abgeschoben werden durften und dies zuletzt noch für Kinder unter drei Jahren Praxis war.

Weitere Presseberichterstattung

Umstrittene Abschiebung in Göttingen: Gegner bei Protest verletzt, in: Göttinger Tageblatt vom 23. Mai 2019

Hintergrund zu den Aufnahmebedingungen in Italien

Aktuelle Situation für Asylsuchende in Italien, Bericht der Schweizerischen Flüchtlingshilfe vom 08. Mai 2019

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