Presseerklärung zur „Wir-schaffen-das“-Debatte


PRO ASYL: Langwieriger Hürdenlauf für Flüchtlinge statt faire und zügige Asylverfahren

Am 31.08.2015 formulierte die Bundeskanzlerin den Satz „Wir schaffen das“ als Maßstab politischen Handelns. Der großartigen Bereitschaft, Flüchtlinge zu schützen, folgte ein „langanhaltender Winter der Restriktionen“, kritisiert PRO ASYL-Geschäftsführer Günter Burkhardt. Burkhardt warnt, dass eine „nicht enden wollende Folge von gesetzlichen Einschränkungen des Asylrechts und in ihrer Bedeutung bislang unterschätzte Managemententscheidungen gegen eine rasche Anerkennung im Asylverfahren das gesteckte Ziel zu einem langwierigen Hürdenlauf für Flüchtlinge machen.“

In Europa habe die Merkel-Regierung einen Kurswechsel vorgenommen, der öffentlich nicht eingestanden wird. „Statt Schutz der Flüchtlinge geht es heute nur noch um den Schutz vor den Flüchtlingen.“ Der Streit dreht sich nur noch um die Frage, welche Grenze wie unüberwindbar gemacht wird. Das Recht auf Asyl in Europa wird durch die Grenzabschottung zur Türkei, den Zaunbau in Europa und vor allem durch die vorverlagerten Grenzschließungen etwa der Türkei zu Syrien zunehmend zu einer Fata Morgana für Schutzsuchende, so Burkhardt. „Es bleibt ein schönes Recht, ist aber faktisch kaum noch erreichbar.“

Unterhalb der öffentlichen Wahrnehmungsschwelle stellt PRO ASYL Fehlentwicklungen beim Ablauf der Asylverfahren und der Feststellung der Schutzbedürftigkeit fest. Diese Fehlentscheidungen treten jetzt immer deutlicher zutage. Zunehmend wird Flüchtlingen aus Syrien, Afghanistan, Irak und Eritrea asylrechtlicher Schutz verweigert.

Bei den zentralen Herkunftsländern Syrien, Afghanistan, Irak und Eritrea verzeichnet PRO ASYL einen drastischen Rückgang der Anerkennungsquote. Wie beunruhigend die Situation in Deutschland ist, zeigen folgende Zahlen: Im Juli wurden 13.000 syrischen Flüchtlingen nur der subsidiäre Schutzstatus zuerkannt, bei insgesamt 24.000 Entscheidungen. Wurden 2015 syrische Schutzsuchende zu nahezu 100% als Flüchtlinge nach der GFK anerkannt, waren es im Juli 2016 weit unter 50 %.

Bei afghanischen Flüchtlingen wurden im Juli sogar rund 2.100 von 4.600 Antragstellern abgelehnt. Die Schutzquote für afghanische Flüchtlinge sank von 78% (2015) auf knapp unter 50% im Juli 2016, trotz verschärfter Sicherheitslage in Afghanistan.

Bei Flüchtlingen aus dem Irak wurden im Juli 2016 935 von 5.114 Asylanträgen sogar gänzlich abgelehnt (20,3%), 830 Schutzsuchende erhielten lediglich subsidiären Schutz.

Aktuell setzt eine Änderung der Entscheidungspraxis des Bundesamtes bei eritreischen Flüchtlingen ein. Die GFK-Anerkennung eritreischer Flüchtlinge sank von 99,1 % im Januar 2016 auf nur noch ca. 80 % im Juli.

PRO ASYL warnt eindringlich vor den fatalen Folgen der Verweigerung des Flüchtlingsschutzes:

  • Zehntausende von Fällen werden aufgrund der behördlichen Fehlentscheidungen durch die Gerichte aufgearbeitet werden müssen. Das Bundesamt wälzt seine Arbeit auf die Gerichte ab.
  • Die Betroffenen werden in eine jahrelange Warteschleife gezwungen.
  • Verweigerung des Flüchtlingsstatus verhindert, dass Flüchtlinge in Deutschland Fuß fassen können. Ihre Sorgen und Ängste drehen sich darum, ihre Familienangehörige nach Deutschland zu holen.

Ohne Recht auf Integrationskurse, ohne einen Flüchtlingsstatus verhindert die Merkel-Regierung und die ihr unterstellten Behörden, dass Flüchtlinge es schaffen.

Zentrale Kritikpunkte von PRO ASYL zur Entscheidungspraxis des Bundesamtes

  1. Anerkennungspraxis bei afghanischen Flüchtlingen
    Die Sicherheitslage in Afghanistan hat sich verschlechtert, weswegen die NATO ihren Einsatz verlängert hat. Die Unterstützungsmission der UN (UNAMA) zählte 2015 in Afghanistan 3.545 zivile Todesopfer, 7.457 Zivilisten wurden verletzt. Dies bedeutet gegenüber 2013 eine Verdoppelung der Opferzahlen. Die Zahl der Binnenvertriebenen im Land stieg von 631.000 in 2013 auf 1,2 Millionen im April 2016.
    Gleichzeitig sank die Schutzquote afghanischer Flüchtlinge von 78% auf knapp unter 50% im Juli 2016. In unserer Beratungspraxis häufen sich die Fälle afghanischer Flüchtlinge, deren Anträge vom Bundesamt abgelehnt wurden. Die Ratsuchenden schildern Repressionen und Bedrohungen – vor allem durch die Taliban. Sie berichten von Zwangsrekrutierungen, Entführungen, Bedrohungen und der Ermordung von Familienmitgliedern.
  2. Anerkennungspraxis bei eritreischen Flüchtlingen
    In Eritrea herrscht unverändert eine brutale Diktatur. Obwohl sich an der Lage im Land nichts zum Besseren entwickelt hat, sank die GFK-Anerkennung eritreischer Flüchtlinge von 97,2 % im Januar 2016 auf nur noch ca. 80 % im Juli. Gleichzeitig stieg der subsidiäre Schutz von 0,5% auf etwa 20 %. Ein häufiges Problem der Flüchtlinge ist, dass die Diktatur alle Frauen und Männer in den Militärdienst bzw. „National Service“ von unabsehbarer Dauer zwingt und bei einer Verweigerung oder Entziehung empfindliche Strafen bis hin zur langjährigen Freiheitsentziehung verhängt. Im Dienst kommt es zu einer Vielzahl von schwerwiegenden Menschenrechtsverletzungen wie Vergewaltigungen und Folter. Galten Wehrdienstentziehung und Desertion bislang als klarer Grund für die Zuerkennung eines GFK-Status, werden die Betroffenen nun zunehmend auf den subsidiären Schutz verwiesen. So findet sich in BAMF-Entscheidungen beispielsweise folgende Formulierung: „Da bislang noch keine … konkrete Aufforderung ergangen ist, den Militärdienst antreten zu müssen, kann der Antragsteller demnach auch nicht als Wehrflüchtiger angesehen werden…“
    Damit wird der junge Asylantragsteller darauf verwiesen, dass er auf seinen Einberufungsbescheid hätte warten sollen, damit er dann nachweislich vor akuter Bedrohung geflohen wäre. Das ist flüchtlingsrechtlich inakzeptabel, geht es doch bei der Prüfung der Flüchtlingseigenschaft um die Frage der begründeten Furcht vor politischer Verfolgung, die junge Eritreer/innen angesichts der allumfassenden Heranziehungspraxis des Regimes haben müssen.
    Eine Folge dieser veränderten Praxis ist, dass den eritreischen Flüchtlingen zwar eine Abschiebung nicht zugemutet werden kann und eine Integration erwartet wird, aber das für die Integration zentrale Recht auf Familiennachzug verwehrt bleibt.
  3. Anerkennungspraxis bei syrischen Flüchtlingen
    Syrische Asylsuchende haben im Jahr 2015 in fast 100 Prozent aller inhaltlich geprüften Fälle den Schutz nach der Genfer Flüchtlingskonvention erhalten. Das BAMF musste diesen Schutzstatus bescheiden, da zuvor die Mehrzahl der Oberverwaltungsgerichte von einer eindeutigen individuellen Gefahr für syrische Rückkehrer ausgegangen ist. Als sodann der Familiennachzug für subsidiär Schutzberechtigte im Februar 2016 für zwei Jahre ausgesetzt wurde, erklärte die Bundesregierung, es würde sich bei dieser Gruppe nur um eine kleine Anzahl der Asylsuchenden handeln und syrische Flüchtlinge seien nicht betroffen. Tatsächlich hat das BAMF seine Entscheidungspraxis rechtswidrig geändert, sodass im Juli 2016 syrische Asylsuchende in etwa 56% aller Fälle nur den subsidiären Schutz erhalten haben. Diese rechtswidrigen Bescheide, die die Betroffenen unzulässig von ihren Familien trennen, werden nunmehr von der Rechtsprechung aufgehoben (u.a. durch die Verwaltungsgerichte in Regensburg, Meiningen, Trier, Schleswig und Düsseldorf, an zahlreichen anderen Gerichten sind die Verfahren noch anhängig). Die Korrektur der inhaltlichen Fehlentscheidungen des BAMF wird damit wie schon 2014 auf die Gerichte ausgelagert.
  4. Überlastung der Gerichte durch Fehlentscheidungen des Bundesamtes
    Die Fehlentscheidungen des Bundesamtes führen dazu, dass Flüchtlinge ihre Bescheide zunehmend von den Gerichten prüfen lassen müssen. Wenn das Bundesamt seine Praxis bei zentralen Herkunftsländern wie Afghanistan, Syrien, Eritrea so gravierend verändert, führt dies dazu, dass zunehmend Gerichte behördliche Fehlentscheidungen korrigieren müssen. Angesichts der großen Zahl von Asylentscheidungen, die noch ausstehen, und der absehbaren Überlastung der Gerichte warnt PRO ASYL davor, dass sich tausende Asylverfahren auf unabsehbare Zeit in die Länge ziehen werden. Wie beunruhigend die Situation ist zeigen folgende Zahlen: Im Juli wurden 13.000 syrischen Flüchtlingen nur der subsidiäre Schutzstatus zuerkannt, bei insgesamt 24.000 Entscheidungen. Bei Flüchtlingen aus dem Irak wurden im Juli 935 Asylanträge sogar gänzlich abgelehnt, 830 Schutzsuchende erhielten lediglich subsidiären Schutz. Bei afghanischen Flüchtlingen wurden im Juli rund 2.100 von 4.600 Antragstellern abgelehnt. Es ist davon auszugehen, dass ein großer Anteil derer, die nicht nach der GFK anerkannt wurden, vor Gericht gehen wird. Die betroffenen Flüchtlinge werden in eine jahrelange, verunsichernde Wartephase gezwungen, die die Integration erschwert. Zentrales Problem dabei das fehlende Recht auf Nachzug von Familienangehörigen, das fortan die Sorgen und Gedanken der hierher Geflüchteten beschäftigt und die Zurückgebliebenen auf gefährliche Fluchtwege zwingt.
  5. Mangelnde Sachverhaltsaufklärung und die systematische Weigerung, Fehler zu korrigieren
    Beim Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) häufen sich in den letzten Monaten Asylentscheidungen, die extrem und offenkundig mängelbehaftet sind. In einigen Fällen haben wir das Bundesamt um eine Prüfung bzw. Abänderung der Entscheidung gebeten, so dass eine sachgerechte Entscheidung erzielt werden konnte. Inzwischen aber scheint sich das Bundesamt dem systematisch zu verweigern. PRO ASYL hatte sich im Fall eines als „offensichtlich unbegründet“ abgelehnten Somalis mit konkreten Mängelrügen an das BAMF gewendet. Im Antwortschreiben des Bundesamtes heißt es: „Grundsätzlich bitte ich Sie aber um Ihr Verständnis, dass wir auf Grund der enormen Arbeitsbelastung derzeit Interventionen von dritter Seite nur in äußerst eklatanten Fällen nachgehen können und auf die – wie hier bereits geschehen – Überprüfung im Gerichtsverfahren verweisen müssen.“

    So bürdet das Bundesamt selbst die Qualitätsprüfung den ihrerseits überlasteten Gerichten auf. Qualitätskontrolle ist aber in erster Linie die Sache des Amtes selbst. Keinerlei Einsicht zeigt das Bundesamt am Schluss seines Briefes an PRO ASYL: „Trotz dieser Qualitätsmängel ist die Entscheidung als offensichtlich unbegründet nicht zu beanstanden, so dass ich leider keine Veranlassung sehe, eine Bescheidaufhebung während des laufenden Gerichtsverfahrens herbeizuführen.“ Aus Sicht von PRO ASYL kann es nicht sein, dass das Bundesamt die Behebung von Fehlern selbst dann verweigert, wenn sie offenkundig sind.
  6. Systematische Trennung von anhörender und entscheidender Person durch die Einführung von Entscheidungszentren
    Für eine sachgerechte Entscheidung ist der persönliche Eindruck von der Glaubhaftigkeit der Asylsuchenden wesentlich. PRO ASYL fordert seit vielen Jahren die Einheit von anhörender und entscheidender Person. Inzwischen wird nicht einmal mehr statistisch erfasst, in wie vielen Fällen die anhörende und entscheidende Person nicht identisch waren. Das Prinzip der Einheit von anhörender und entscheidender Person werde derzeit zwecks Verfahrensbeschleunigung nicht angewendet, so das Bundesamt. Mit der Einführung von Entscheidungszentren ist die inakzeptable Trennung von anhörender und entscheidender Person als Regelverfahren institutionalisiert worden.
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