Hohe Bleibeperspektive, geringe Bleibeperspektive: Die Stochastik wird zum Verteilungskriterium sozialer Teilhabe

Kommentar von Claudius Vogt, GGUA Münster

Laut Wikipedia handelt es sich bei der „Stochastik“ um die Kunst des Vermutens oder Ratekunst. Sie ist ein Teilgebiet der Mathematik und fasst als Oberbegriff die Gebiete Wahrscheinlichkeitstheorie und Statistik zusammen.
Die „Ratekunst“ – also die Prognose, ob jemand über eine geringe oder über eine hohe Bleibeperspektive verfügt – scheint mehr und mehr zum Instrument der Verteilung von Teilhabechancen zu werden.
Allein: Die Frage, ob jemand eine „hohe“ oder „geringe“ Bleibeperspektive hat, ist nicht Ausgangspunkt, sondern Ergebnis bestimmter rechtlicher Regelungen. Das heißt: Über die Gestaltung des Rechts wird die Bleibeperspektive erst zu einer „hohen“ oder „geringen“ gemacht.
Der Begriff der „geringen Bleibeperspektive“ ist faktisch nichts anderes als ein semantisch aufgehübschtes Synonym für die in den ideologischen Debatten der 1980er und 90er Jahre genutzten Kampfbegriffe „Asylbetrüger“ oder „Scheinasylanten“. Nur: Richtiger wird er auch durch den Einsatz rhetorischen Weichspülers nicht.

Menschen halten sich schlichtweg nicht an die in sie hinein projizierte „geringe Bleibeperspektive“. Sie bleiben dennoch lange oder für immer hier, sie kommen wieder oder schaffen sich selbst eine hohe Bleibeperspektive.
Die politische Diskussion um die „Gastarbeiter“ der 60er und 70er Jahre und die „Wirtschaftsflüchtlinge“ der 80er und 90er Jahre ging bereits in die gleiche Richtung: Auch diesen Gruppen war damals eine „geringe Bleibeperspektive“ zugeschrieben worden. Unter anderem dies war der Grund, warum soziale Teilhabe verweigert oder nicht für notwendig erachtet wurde. Erst sehr viel später hat man erkannt, dass die damalige Politik eine integrations- und sozialpolitische Geisterfahrt war, die später aufwändig und schmerzhaft korrigiert werden musste. Muss nun derselbe Fehler zum dritten Mal wiederholt werden?
Die niedersächsische Landesbeauftragte für Migration und Teilhabe, Doris Schröder-Köpf, sorgt sich völlig zurecht vor einem „Rückfall in alte Reflexe“ und warnt davor, „wieder in das alte Spiel zu verfallen und die Welt in gute Flüchtlinge und schlechte Flüchtlinge zu unterteilen“.
Es ist interessant, dass die Gebrauchsanleitungen, die bereits in den 1980er und 1990er Jahren alles andere als hilfreich waren, nun erneut aus der Schublade gezogen werden sollen. Diese Herangehensweise ist nicht nur sozial-und integrationspolitisch falsch. Sie führt neben der verordneten sozialen Exklusion einer ganzen Bevölkerungsgruppe auch zu einem gesellschaftlichen Klima der „Verachtung“ gegenüber Menschen mit „geringer Bleibeperspektive“ – übersetzt: Menschen aus dem Balkan. Unausgesprochen, aber in Wahrheit gemeint: Roma.
Hier die vollständige Zusammenfassung und Kritik von Claudius Vogt zum vorliegenden Gesetzentwurf der Bundesregierung.
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