Versuchte Selbstverbrennung in Lingen: Flüchtlingsrat fordert politische Konsequenzen

Der Flüchtlingsrat Niedersachsen fordert Konsequenzen aus der Verzweiflungstat des marokkanischen Flüchtlings Hamid R., der sich am späten Samstagabend in Lingen durch Selbstverbrennung das Leben nehmen wollte und derzeit schwer verletzt in einer Gelsenkirchener Fachklinik liegt. Glücklicherweise ist er inzwischen außer Lebensgefahr (Näheres siehe NOZ von heute). Hintergrund des Suizidversuches war die bevorstehende Abschiebung des 36-jährigen Marokkaners nach Bulgarien. Diese sollte am Montag (20. April) erfolgen.

Unter Bezugnahme auf die einschlägigen Berichte von Menschenrechtsorganisationen über schwerwiegende Menschenrechtsverletzungen an Flüchtlingen in Bulgarien fordert der Flüchtlingsrat, Abschiebungen nach Bulgarien auszusetzen. Es ist aus menschenrechtlicher Perspektive skandalös, dass schon das Versprechen der bulgarischen Regierung, die unmenschlichen Lebensbedingungen in Bulgarien verbessern zu wollen, ausreichen soll, um Abschiebungen dorthin zu rechtfertigen, obwohl weiterhin eine Fülle von Beschwerden darüber vorgebracht werden, dass Flüchtlinge in Bulgarien auch weiterhin systematisch inhaftiert, misshandelt und in illegalen „push-back-Aktionen“ außer Landes gebracht werden. Näheres siehe die Presseerklärung von PRO ASYL vom 16.04.2015.

Weiterhin fordert der Flüchtlingsrat, dass bei Verdacht auf das Bestehen einer Traumatisierung und Suizidgefahr Abschiebungen zunächst grundsätzlich ausgesetzt werden. Flüchtlinge, die von Abschiebung bedroht sind, können im Zeitraum von einer Woche, die ihnen für die Einlegung von Klage und Eilantrag gegen Abschiebungsbescheide im Rahmen des Dublin-Verfahrens bleibt, kein fachärztliches Gutachten vorlegen, das den gerichtlichen Anforderungen an die Glaubhaftmachung eines posttraumatischen Belastungssyndroms genügt. Es ist auf keinen Fall hinzunehmen, dass ärztliche Bescheinigungen, die ausdrücklich das Vorliegen einer „Reiseunfähigkeit“ bestätigen, schlicht unbachtet bleiben. Dies betrifft nicht nur das BAMF als zuständiger Ausländerbehörde, sondern ausdrücklich auch die Ausländerbehörde, die den Vollzug durchführt. Bei Vorliegen entsprechender Diagnosen muss vor dem Vollzug von Abschiebungen zwingend eine fachärztliche Untersuchung und Behandlung ermöglicht werden!

Zur Vorgeschichte:

Hamid R. leidet unter den Folgen einer Inhaftierung in Marokko, wo er von Polizeikräften so stark geschlagen wurde, dass er auf dem rechten Auge erblindete. Fachärztliche Atteste liegen hierzu vor. Die Folge dieser Erfahrungen sind wiederkehrende Angstzustände und Schlaflosigkeit. Hamid flüchtete über mehrere europäische Staaten bis nach Bulgarien, wo er erneut inhaftiert und geschlagen wurde, „wie in einem Straflager“, wie Hamid sagt. Die bulgarischen Behörden zwangen ihn, in Bulgarien einen Asylantrag zu stellen. Nach seiner Haftentlassung floh Hamid weiter nach Deutschland und stellte am 24.09.2014 einen Asylantrag. Am 17.11.2014 stellte das Bundesamt ein Übernahmeersuchen nach Dublin III an Bulgarien. Mit Schreiben vom 19.01.2015 erklärte sich Bulgarien für die Bearbeitung des Asylverfahrens zuständig. Mit Bescheid vom 28.01.2015 erließ das BAMF den Bescheid, dass der Antrag ohne eine Prüfung der Asylgründe als unzulässig abgelehnt wird, und ordnete die Abschiebung nach Bulgarien an.
Am 09.02.2015 reichte Rechtsanwältin Hildegard Bocklage aus Haselünne gegen diesen Bescheid Klage beim Verwaltungsgericht Osnabrück ein und stellte einen Antrag auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung. Zur Begründung verwies sie auf die unmenschliche und erniedrigende Behandlung von Flüchtlingen in Bulgarien und legte eine Hausarztbescheinigung vor, der zufolge Hamid als „reiseunfähig“ diagnostiziert wurde. Der Hausarzt hatte ihm ein Antidepressivum verschrieben und ihn zum Neurologen/Psychiater überwiesen.
Mit Beschluss des Verwaltungsgerichts Osnabrück vom 09.03.2015 (Az. 5 B 57/15) wurde der Antrag auf Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes abgelehnt. Nach Auffassung des Verwaltungsgerichts leidet das Asylsystem in Bulgarien unter keinen „systemischen Mängeln“. Zur Begründung verwies das Gericht auf die Berichte des UNHCR vom 07. und 21.02.2014 und vom April 2014, denen zufolge sich „die bulgarische Regierung und die bulgarischen Behörden bemühen, eine Verfahrens- und Aufnahmequalität zu erreichen, die den Anforderungen der internationalen und europäischen Vorgaben entspricht“. Den Berichten sei „zwar auch zu entnehmen, dass diese Bemühungen wegen der bis Januar 2014 bestehenden Defizite in vielen Bereichen bzw. Örtlichkeiten noch nicht zu adäquaten Zuständen bzw. entsprechenden Verfahrensbedingungen geführt haben“. Eine generelle Aussetzung von Abschiebungen nach Bulgarien lasse sich daraus jedoch nicht ableiten.
Ferner prüfte das VG OS noch den Einzelfall und kam zu dem Ergebnis, dass das Vorliegen einer PTBS nicht ausreichend dargelegt und eine Selbstmordgefährdung nicht ersichtlich sei. Die Einholung eines Sachverständigengutachtens sei nicht angezeigt, „weil der Vortrag des Antragstellers hinsichtlich einer posttraumatischen Belastungsstörung weit von einer hinreichenden Substantivierung entfernt ist“.
Mit Schreiben vom 09.04.2015 teilte der Landkreis Emsland mit, dass er am 20.04.2015 über den Flughafen Frankfurt/M. nach Sofia/Bulgarien abgeschoben werden solle und er sich um 5.00 Uhr morgens bereithalten solle. Dieses Schreiben holte Hamid R. am 13.04.2015 von der Poststelle ab. Der am 30.03.2015 – nach der Entscheidung des Verwaltungsgerichts – konsultierte Facharzt für Psychiatrie konnte aufgrund von Sprachproblemen noch keine umfassende Erhebung über den Gesundheitszustand durchführen, teilte aber in der ärztlichen Bescheinigung vom 15.04.2015 mit, dass der Verdacht einer PTBS besteht, und verschrieb dem Flüchtling ein Neuroleptikum. Weitere Termine mit dem Psychiater waren vereinbart. Anwältin Bocklage hat einen erneuten Eilantrag eingereicht, über den das Verwaltungsgericht Osnabrück noch nicht entschieden hat.

Anlagen:
Eilentscheidung des VG Osnabrück im Fall des Hamid R.
Kritik des Urteils durch den AK Asyl Nordhorn

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