HAZ-Interview mit Innenminister Pistorius stößt auf geteiltes Echo

In dem – unten dokumentierten – Interview der HAZ mit Innenminister Boris Pistorius äußert sich dieser vor dem Hintergrund steigender Asylantragszahlen zu verschiedenen Fragen des Asylverfahrens und der Flüchtlingsaufnahme. Erstmals räumt er ein, dass die den Kommunen gewährte Pauschale des Landes für die Unterbringung und Betreuung von Asylsuchenden erhöht werden muss. Unter Verweis auf Probleme der Kommunen und des Landes bei der Unterbringung von Asylsuchenden fordert er vom Bund mehr Unterstützung bei der Unterbringung durch die Bereitstellung von Kasernen und schnellere Asylverfahren durch eine personelle Aufstockung beim BAMF. Ferner fordert er die Einstufung von Serbien, Bosnien-Herzegowina und Mazedonien als sichere Herkunftsstaaten („In diesen Ländern gibt es keine politische Verfolgung“) und rechtfertigt Nachtabschiebungen unter Hinweis auf die Vorgaben und Zuständigkeiten des Bundes für Dublinverfahren im Rahmen des „gemeinsamen europäischen Asylsystems“.

Positiv ist zunächst einmal die pragmatische Grundhaltung, mit der Pistorius aktuelle Probleme benennt und Lösungen fordert. Natürlich muss das Personal beim BAMF aufgestockt werden, wenn die Verfahren immer länger werden, weil das BAMF mit den Entscheidungen nicht nachkommt. Und selbstverständlich müssen Kasernen oder andere Liegenschaften des Bundes, die leer stehen, daraufhin geprüft werden, ob sie z.B. als zusätzliche Erstaufnahmeeinrichtung in Frage kommen, wenn anderweitig kein Platz mehr zur Verfügung steht. Das dient der Vermeidung von Zeltstädten oder Obdachlosigkeit und ändert natürlich nichts an der Tatsache, dass eine dezentrale Unterbringung für Flüchtlinge zum frühestmöglichen Zeitpunkt die Perspektive ist und bleibt.

Problematischer sind die Äußerungen des Innenministers betreffend die angeblich sicheren Drittstaaten auf dem Balkan. Die Aussage, es gäbe dort keine politische Verfolgung, ist aus menschenrechtlicher Sicht zurückzuweisen. Die Berichte von Betroffenen und Menschenrechtsorganisationen zeugen von vielfältigen Formen der Diskriminierung, die auch der Innenminister nicht in Frage stellt, aber nicht als politische Verfolgung gedeutet wissen will.

Laut Art. 9 Abs. 1 b und Abs. 2 der europäischen Qualifikationsrichtlinie können Diskriminierungen wie die, denen Roma in ihren Herkunftsländern ausgesetzt sind, aber durchaus als „kumulierte Verfolgung“ gewertet werden, die im Asylverfahren berücksichtigt werden müsste, und es gibt auch Verwaltungsgerichte, die dies so sehen (siehe z.B. Entscheidung des VG Stuttgart vom 25.03.2014). Amnesty international schreibt dazu: „Gerade Roma sind nicht „sicher“ vor Verfolgung. Sie sind strukturell benachteiligt, leben am Rande der Gesellschaft. Oft buchstäblich: Am Rand von Städten, in Industriegebieten, manche Familien auf der Müllkippe. Oft sind sie damit praktisch abgeschnitten vom Arbeitsmarkt, von medizinischer Versorgung und die Kinder von vernünftiger Schulbildung. Dazu kommt, dass die Regierungen sie nicht vor rassistischen Angriffen schützen und Politiker teilweise die Vorurteile gegen sie noch schüren. In der Summe können diese mehrfachen Diskriminierungen – auch nach den strengen Maßstäben des Asylrechts – eine Verfolgung darstellen. Dann haben die Betroffenen das Recht, Schutz zu suchen und zu finden. Auch bei uns.“ (siehe hier). Vor dem Hintergrund der in vielen Roma-Familien nach wie vor virulenten Erinnerung an die Verfolgung unter den Nationalsozialisten sollte man auch vom niedersächsischen Innenminister erwarten können, dass er mehr Sensibilität an den Tag legt und eine politische Verfolgung in den Balkanstaaten nicht einfach bestreitet.

Nicht einverstanden sind wir auch mit dem Hinweis auf die Verantwortung des Bundes für die Durchführung der Dublin-Abschiebungen. Die aufenthaltsrechtliche Entscheidung liegt beim Bund, für die Durchführung sind aber niedersächsische Beamte tätig, und für die trägt der Innenminister die Verantwortung. Nachtabschiebungen ließen sich beispielsweise durchaus verhindern, wenn der politische Wille dazu besteht. Das hat auch der SPD-Innenexperte Ulrich Watermann im Namen der SPD-Landtagsfraktion öffentlich bestätigt, als er in seiner Presseerklärung vom 20. März u.a. ausführte:
„Es mag Gründe geben, die aus Sicht der verantwortlichen Behörden für nächtliche Aktionen im Rahmen das Verfahren der Abschiebung und Rückführung sprechen. Diese Gründe sind aus Sicht der SPD-Landtagsfraktion aber solche, die unseren humanitären Überzeugungen entgegenstehen.“ Deshalb forderte die SPD-Landtagsfraktion die Landesregierung auf, bei den zuständigen Bundesbehörden zu erwirken, das Verfahren so zu ändern, dass es nicht mehr zu Nachtabschiebungen kommt. Der innenpolitische Sprecher Ulrich Watermann sagte damals: „Ich bin überzeugt davon, dass das vernünftiger und menschenwürdiger zu organisieren ist.“ (siehe hier)

Vor dem Hintergrund anhaltender Klagen über Menschenrechtsverletzungen und mangelnde Existenzmöglichkeiten für Flüchtlinge etwa in Bulgarien und Italien wäre es im Übrigen durchaus angemessen, dass sich der niedersächsische Innenminister auch dazu äußert und z.B. einen befristeten Abschiebungsstopp ins Spiel bringt, statt achselzuckend auf die Zuständigkeit des Bundes zu verweisen. Es muss auch ihm klar sein, dass die fortgesetzten Auseinandersetzungen um Dublinabschiebungen in Niedersachsen durchaus geeignet sind, das Bild eines weltoffenen Niedersachsen zu beschädigen, das sich um eine frühzeitige Integration und Teilhabe auch von Flüchtlingen bemüht und zu Recht rühmt, hier einen grundsätzlichen Politikwechsel eingeleitet zu haben.

Kai Weber


Interview von Michael Berger mit dem nds. Innenminister Boris Pistorius in der HAZ vom 8.9.2014:

„Wir brauchen schnellere Asylverfahren“

Herr Minister, die Flüchtlingszahlen steigen, einige Kommunen klagen über Unterbringungsschwierigkeiten, manche meinen, der kritische Punkt sei erreicht. Wie beurteilen Sie die Lage?Na klar, die Zahlen steigen. Wir haben dieses Jahr bundesweit 200?000 Menschen, die zum ersten Mal Asyl beantragen, nächstes Jahr müssen wir mit 230?000 Erstanträgen rechnen. Das ist wesentlich mehr als in den vergangenen Jahren, aber andererseits nur halb so viel wie auf dem Höhepunkt der Asyl­bewerberzuwanderung vor 20 Jahren. Insofern muss man das auch einmal relativieren. Wir haben tatsächlich, das ist nicht zu bestreiten, Probleme in den Kommunen. Wir haben deutliche Kapazitätsprobleme in den Landesaufnahmeeinrichtungen. Wir haben auch ein Finanzierungsproblem in den Kommunen, was die Unterbringung und die Betreuung angeht.

Die Kommunen monieren, dass die Pauschale von 5900 Euro pro Flüchtling und Jahr viel zu niedrig sei.

Ich kann die Sorgen nachvollziehen, wir befinden uns gerade in den Verhandlungen über eine höhere Pauschale. Aber egal, wie viel wir mehr zahlen können: Wir brauchen mehr Unterstützung vom Bund, und wir brauchen wesentlich schnellere Asylverfahren. Das würde uns allen helfen.

Inwiefern?

Also, wenn wir in unseren Landesaufnahmeeinrichtungen inzwischen zeitweise Überbelegungen von fast 70 Prozent haben, dann löst das mehrere Folgeprobleme aus. Der Druck auf die Kommunen wird erhöht, möglichst schnell Wohnraum zu beschaffen. Die Ankündigungen an die Kommunen, dass neue Flüchtlinge kommen, liegen manchmal nur wenige Tage vor deren Ankunft.

Was kann der Bund tun, die Lage zu entspannen?

Der Bund muss mit Nachdruck dafür sorgen, die Asylverfahren deutlich zu beschleunigen. Es sind schon lange Planstellen beim Bundesamt für Migration und Flüchtlinge beschlossen worden, die aber immer noch nicht besetzt wurden. Wir brauchen ferner die sichere Herkunftsstaatenregelung bei Balkanstaaten wie Serbien, Bosnien-Herzegowina und Mazedonien, aus denen ein großer Teil der Asylbewerber kommt. Aber in diesen Ländern gibt es keine politische Verfolgung, was nun einmal die Voraussetzung für das Asyl in Deutschland ist. Trotzdem müssen die Anträge natürlich ordnungsgemäß bearbeitet werden, das kostet Zeit und bindet Personal.

Aber es gibt Diskriminierung in den von Ihnen genannten Ländern?

Sicher bestreitet niemand, dass Roma in einigen Balkanstaaten, die bald EU-Mitgliedsstaaten sein wollen, Probleme haben und nicht selten auch diskriminiert werden. Aber das deutsche Asylrecht ist in diesen Fällen der falsche Weg. Hier ist die EU gefordert und die nationalen Regierungen dort. Ferner brauchen wir die Unterstützung des Bundes bei der Verfügungsstellung von Liegenschaften. Es gibt in Niedersachsen in einigen Regionen Kasernen in gutem Zustand, in denen die Asylbewerber untergebracht werden könnten. Hier muss der Bund angesichts der vielen Flüchtlinge den Kommunen entgegenkommen – auch bei den Mieten oder dem Kaufpreis.

Nimmt der lokale Protest gegen Flüchtlingsheime Ihrer Ansicht nach zu?

Nein, aber deshalb müssen wir weiterhin alles Mögliche dafür tun, dass die gute Aufnahmebereitschaft erhalten bleibt. Natürlich kann die aktuell positive Stimmung abnehmen, wenn wir vor der Situation stehen, im Winter zum Beispiel Zeltstädte für Asylbewerber errichten zu müssen. Auf der anderen Seite finde ich es sehr erfreulich, dass die Bürger in unserem Land den Flüchtlingen mit Mitgefühl, großer Hilfsbereitschaft und viel Verständnis für deren Situation begegnen. Für fliehende Syrer oder Iraker hat jeder Verständnis.

Sie haben in Niedersachsen eine humanere Flüchtlingspolitik versprochen und das Ende von Nachtabschiebungen. Dennoch kommt es dazu, dass die Polizei etwa in Hannover um 24 Uhr vor der Wohnung eines Flüchtlings erscheint. Waren Ihre Versprechen zu blauäugig?

Wir haben das nicht so versprochen, sondern wir haben immer gesagt: Wir wollen keine Nachtabschiebungen, wie es sie in den letzten zehn Jahren immer wieder gab. Da konnte es passieren, dass Ausländeramt und Polizei ohne jegliche Vorankündigung nachts vor der Haustür standen und dabei sogar Familien getrennt wurden. Das wollen wir nicht. Leider gibt es aber Fälle, in denen wir als Land nicht die Vorgaben machen. Wir müssen uns an Regeln halten. Wenn jemand aus dem Sudan über Italien in die EU eingereist ist, muss er dort sein Asylverfahren führen, das sieht das gemeinsame europäische Asylsystem so vor. Interview: Michael B. Berger

08.09.2014 / HAZ Seite 4 Ressort: NIED

 

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