von Karim Alwasiti
Aus Anlass des diesjährigen Tags des Flüchtlings am 02.10.2020 macht der Flüchtlingsrat Niedersachsen auf die Situation der durch Flucht getrennten Flüchtlingsfamilien aufmerksam, die um ihr Recht auf ein Familienleben kämpfen: Jahrelang wurde die Umsetzung dieses Grundrechts durch politische Maßnahmen behindert und in die Länge gezogen. Es scheint, dass die Bundesregierung jede Gelegenheit zu nutzen versucht, um durch ihr Nichthandeln den Nachzug zu Schutzberechtigten zu verzögern, unabhängig davon, in welcher Lebenssituation diese Menschen sich befinden und welche Rechtsansprüche sie haben. Nach letzten Zählungen geht es bei den Angehörigen von in Deutschland subsidiär Geschützten um eine Zahl von gerade mal knapp 12.000 Personen. Die weitere Verzögerung eines Familiennachzugs nach oftmals jahrelanger erzwungener Trennung ist perfide und menschenverachtend. Am diesjährigen Tag des Flüchtlings sollten wir uns nochmals vor Augen führen, dass es sich hier um Menschen handelt, die in ihren Ländern teils mehrfach vertrieben worden sind und die sich in einer oftmals prekären und unsicheren, nicht selten auch lebensgefährlichen Lage befinden. Das Leid und Bangen der hier lebenden Geflüchteten und ihrer Angehörigen zieht sich weiter in die Länge.
Ein Opfer dieser Politik ist Mohammed K., dessen Schicksal wir nachfolgend dokumentieren:
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Nach fünf Jahren der Trennung: Mohammed wartet immer noch auf seine Familie
Der heute 15-jährige Mohammed K. flüchtete Ende 2015 als 10-Jähriger zusammen mit seinem Onkel und dessen Ehefrau nach Deutschland. Mohammeds Vater ist Mitglied einer kurdischen Partei und steht wegen seiner politischen Aktivitäten und der Verweigerung des Militärdienstes auf der Fahndungsliste des syrischen Regimes. Die Eltern wollten zumindest Mohammed in Sicherheit bringen und schickten ihn ins Exil nach Deutschland.
Im Februar 2017 hat Mohammed in Deutschland Schutz erhalten. Aber es geht ihm nicht gut: Mohammed vermisst seine Familie, die in einem Flüchtlingslager im Irak feststeckt und zu der neben seinen Eltern auch vier Schwestern im Alter zwischen sechs und 13 Jahren gehören. Der Vater leidet unter Nierensteinen, kann sich eine Operation jedoch finanziell nicht leisten. Sicher fühlt sich die Familie auch nicht: Die Terrororganisation IS fasst in der Region zunehmend wieder Fuß. Daher kämpft Mohammed zusammen mit PRO ASYL, dem Flüchtlingsrat Niedersachsen und seinen Unterstützer:innen vor Ort darum, dass seine Eltern und Geschwister zu ihm nach Deutschland nachziehen dürfen. Die von den Unterstützer:innen erstellte Petition vermittelt, was es für den Jungen heißt, ohne seine Familie aufzuwachsen.
Nach der gefahrvollen Flucht zu Fuß über die Türkei, mit dem Schlauchboot über das Mittelmeer und dann per Bus und Zug nach Deutschland wurde Mohammed als „unbegleiteter Minderjähriger“ mehrere Monate von seinem Onkel und seiner Tante getrennt untergebracht. Dem verstörten Kind waren die Gründe für die Trennung von seiner Familie zunächst kaum zu vermitteln. Als im im Februar 2017 endlich „subsidiärer Schutz“ gewährt wurde, hatte der Gesetzgeber das Recht auf Familiennachzug jedoch erst einmal ausgesetzt. Vergeblich bemühte sich PRO ASYL darum, beim Auswärtigen Amt ein Visum im Rahmen eines „Härtefallantrags“ zu bekommen.
Seit dem 01. August 2018 ist ein Familiennachzug theoretisch wieder möglich. Das Verfahren ist jedoch sehr kompliziert und bürokratisch gestaltet. Bis heute ist es seiner Familie nicht gelungen, ein Visum zu erhalten:
Schon die Antragstellung gestaltete sich schwierig: Da die Terminanträge aufgrund der veränderten Rechtslage zweimal für ungültig erklärt wurden, gelang es erst beim dritten Versuch, überhaupt einen Termin zur Vorsprache zu erhalten. Im Frühjahr 2019 durfte die Familie endlich ihr Begehren um ein Visum bei dem deutschen Generalkonsulat in Erbil vortragen. Gemäß dem von der Bundesregierung beschlossenen Verfahren wurde anschließend die für Mohammed zuständige, lokale deutsche Ausländerbehörde um ihre Stellungnahme zu dem Visumsantrag gebeten. Diese ließ sich für die Bearbeitung des Antrags acht Monate Zeit. Obwohl die Vormundin von Mohammed für die gesamte Familie Wohnraum zur Verfügung stellte, erklärte die Behörde schließlich ihre Zustimmung nur für den Familiennachzug der Eltern und verlangte als Voraussetzung für eine Zustimmung zur Einreise auch der vier Schwestern (4, 10, 11 und 13 Jahre) die Vorlage einer Verpflichtungserklärung für die Übernahme des Lebensunterhalts.
Die Lebenssituation der in einem Flüchtlingslager im irakischen Kurdistan lebenden Familie ist dramatisch schlecht. Allein ohne Eltern können die Kinder dort nicht verbleiben. Die Eltern können aber mangels finanzieller Mittel auch keine Verpflichtungserklärung für ihre Töchter abgeben. Daher wandte der Flüchtlingsrat Niedersachsen sich an das niedersächsische Innenministerium als Fachaufsicht und konnten schließlich erreichen, dass die Ausländerbehörde einem Familiennachzug zu Mohammed auch ohne die Vorlage einer „Verpflichtungserklärung“ zustimmte und die Akte an das „Bundesverwaltungsamt“ weiterleitete, welches den Fall erneut prüfte und schließlich an das Generalkonsulat zwecks Visumserteilung weiterleitete. Am 25.03.2020 wurde das Visumsverfahren endlich formal abgeschlossen. Zu diesem Zeitpunkt hatte das Generalkonsulat in Erbil ihre Tätigkeit aufgrund der Covid-19-Pandemie allerdings vorläufig eingestellt.
Inzwischen sind wieder Botschaftstermine in Erbil möglich. Einen Termin hat die Familie jedoch bis heute nicht bekommen. Die letzte Antwort des Konsulats vom 14. September 2020 lautet:
„Die Bearbeitungszeit der Visaanträge hat sich aufgrund der Schließung der Visastelle während der Corona Pandemie wesentlich verlängert. Das Generalkonsulat ist bemüht, laufende Visaverfahren so schnell wie möglich abzuschließen und abgelaufene Visa, die coronabedingt nicht genutzt werden konnten, neu auszustellen.“
Gemeinsam mit den engagierten Unterstützer:innen, die die o.g. Petition verfasst haben, werden wir im Namen von PRO ASYL und dem Flüchtlingsrat Niedersachsen weiter darauf drängen, dass die unsägliche Familientrennung fünf Jahre nach der Flucht endlich überwunden wird: Mohammed muss mit seinen Eltern und seinen Schwestern zusammen in Deutschland leben können.
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Hintergrund:
Für die Zeit von Februar 2016 bis Juli 2018 wurde ein Familiennachzug für subsidiär Geschützte vom Gesetzgeber grundsätzlich ausgeschlossen. Seit dem 01. August 2018 ist ein Familiennachzug zwar wieder möglich. Das Verfahren wurde jedoch sehr kompliziert und bürokratisch gestaltet: Bürokratische Auflagen und Nachweisforderungen sowie lange Wartefristen sorgten dafür, dass ein Familiennachzug oftmals über Jahre nicht stattfinden konnte. Dramatisch wurde die Lage vieler getrennter Flüchtlingsfamilien im Frühjahr 2020 durch die coronabedingte Schließung der deutschen Auslandsvertretungen und die Verhängung einer Einreisesperre auch für solche Angehörigen, die nach jahrelangem Kampf endlich ein Visum bekommen hatten (siehe hierzu den Bericht aus Juli 2020: Familiennachzug: Corona-Krise trifft getrennte Familien hart). Laut Aussage der Bundesregierung auf Anfrage der Grünen im Bundestag wurden im zweiten Quartal 2020 von allen deutschen Auslandsvertretungen weltweit nur 220 Visa erteilt, davon 42 zu subsidiär Schutzberechtigten.
Inzwischen sind Visumserteilungen zwar grundsätzlich wieder möglich. Die faktische Aussetzung von Familienzusammenführungen über Monate hat jedoch einen großen Stau unbearbeiteter Anträge bewirkt, und die Bundesregierung denkt nicht daran, für eine beschleunigte Abarbeitung dieser Anträge zu sorgen: Das Auswärtige Amt als die für die Durchführung von Visumsverfahren zuständige Behörde hat erklärt, dass in diesem Jahr keine Resourcen zur Verfügung stünden, um weiteres Personal in die chronisch unterbesetzten Visastellen abzuordnen. Familienangehörige, die sich um eine Neuvisierung ihrer coronabedingt verfallenen Visa bemühen, müssen sich erneut hinten in die Schlange stellen und monatelang auf einen Termin warten.
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