70 000 Ausländer leben illegal in Deutschland
Geduldete Ausländer führen ein unsicheres Leben. Wer dies als Migrant einmal vergessen sollte, kann die Erinnerung jederzeit durch einen Blick in seinen Pass auffrischen: „Kein Aufenthaltstitel – der Inhaber ist ausreisepflichtig!“ steht da. Im Klartext: Eigentlich muss der Mann abgeschoben werden, aber das geht derzeit nicht. Deshalb gibt es Aufschub für ein paar Monate. Geduldete Ausländer sind meist abgelehnte Asylbewerber, denen die Ausreise noch nicht zugemutet wird oder denen die nötigen Papiere fehlen. Stellt man Deutschlands Zuwanderer in einer Pyramide dar, so bilden die 88 000 Geduldeten darin den Keller, die Schicht mit den schwächsten Rechten. So zumindest war bislang die vorherrschende Meinung.
Tatsächlich aber existiert inzwischen eine bedeutende Gruppe, die noch weiter unten steht, Menschen, denen die Ausländerbehörden nicht einmal eine Duldung zugestehen: Derzeit sind dies fast 70 000 Menschen. Diese Zahl geht aus einer Antwort des Bundesinnenministeriums auf eine Anfrage der Linksfraktion hervor, die der Süddeutschen Zeitung vorliegt. Die meisten davon sind keineswegs erst kürzlich im Asylverfahren gescheiterte Flüchtlinge, drei Viertel von ihnen, fast 53 000, lebten bereits seit mehr als sechs Jahren im Land.
Die Zahl ist umso erstaunlicher, als Zuwanderer ohne Duldung oder einen Aufenthaltstitel im Gesetz gar nicht vorgesehen sind. „Das ist eine rechtswidrige Praxis der Ausländerbehörden“, sagt Susanne Schröder, Vizevorsitzende der Arbeitsgemeinschaft Ausländerrecht im Deutschen Anwaltverein. Die Anwältin hat immer wieder mit solchen Fällen zu tun. Meist sind dies geduldete Zuwanderer, die man zur Ausreise drängen will oder deren Abschiebung kurz bevorsteht. Deshalb verlieren sie ihre Duldung und erhalten stattdessen eine sogenannte Grenzübertrittsbescheinigung, die sie an der Grenze einem Bundespolizisten in die Hand drücken sollen. Das Papier ist nur wenige Wochen gültig.
Doch offenbar schweben viel mehr Menschen in diesem unsicheren Status als tatsächlich das Land verlassen: Den 70 000 Ausländern ohne Duldung stehen für das Jahr 2009 gerade einmal 7800 Abschiebungen gegenüber. Selbst wenn man die freiwilligen Ausreisen hinzurechnet, ändert sich wenig, denn erfahrungsgemäß verlassen weniger Menschen aus freien Stücken Deutschland als durch Abschiebung. Für diejenigen, die so vergeblich unter Druck gesetzt werden, hat der Entzug der Duldung schwerwiegende Folgen. „Ohne Duldung dürfen sie nicht arbeiten oder verlieren ihren Job“, sagt Schröder. So erging es kürzlich ihrem Mandaten Aziz M. aus dem Irak. Mit der Duldung verlor er seinen Arbeitsplatz, klagte, bekam seine Duldung zurück, musste dann aber von Sozialleistungen leben. Laut Gesetz müssten alle, deren Abschiebung misslingt, rasch wieder eine Duldung bekommen. „Offensichtlich werden aber trotz eindeutiger Rechtslage Zehntausende Menschen rechtswidrig in größter Unsicherheit gehalten“, sagt die Linken-Innenexpertin Ulla Jelpke.
Die Zahl von 70 000 Menschen im rechtlichen Graubereich kann selbst das Bundesinnenministerium nicht so recht erklären. Es handele sich um Menschen, deren Abschiebung möglich sei, sagt ein Sprecher. Warum offenbar nur ein Bruchteil das Land verlässt, weiß auch das Ministerium nicht. Roland Preuß