Hannover, 09.09.2015
siehe auch: Presseerklärung des Flüchtlingsrats Niedersachsen zur Landespressekonferenz am 09.09.2015
1. Es ist viel Platz im Boot
Die Aufnahme von Flüchtlingen kompensiert gerade mal den Rückgang der Bevölkerung. Auch in den Schulen gibt es im Durchschnitt nicht mehr, sondern weniger Kinder. Die Aufnahme der Flüchtlinge ist insofern v.a. ein Organisations- und Verteilungsproblem
2. Zur Gewährleistung einer adäquaten Unterbringung von Flüchtlingen sind folgende Maßnahmen erforderlich:
Wir brauchen einen Generalplan zur Wohnbauförderung!
Vage Absichtserklärungen helfen nicht. Was Bundes- und Landesregierung hierzu bislang vorgelegt haben ist wolkig und unkonkret. Wir brauchen konkrete neue und erweiterte Programme zur Wohnbauförderung, eine Neuauflage des sozialen Wohnungsbaus, wie es ihn in den 50er Jahren gegeben hat. Die Fördermittel des Bundes laufen bis 2019 aus, jeden Tag fallen mehr Wohnungen aus der Bindung und nur wenige kommen hinzu. Nicht nur für Flüchtlinge, auch für Obdachlose, Hartz IV – Empfänger:innen, Studierende, Frauenhäuser, entlassene Häftlinge usw. wird es immer schwerer, eine Wohnung zu bekommen. Wenn wir nicht auf Jahre hinaus ein Land voller Container- und Barackenlager werden wollen, mit allen Folgen und einem Kampf um die Ressource Wohnung, der die inländischen Modernisierungsverlierer auf den Plan ruft, müssen wir jetzt handeln!
Die Aufstockung der Plätze in der Erstaufnahme ist richtig und wichtig!
Derzeit sind die Zustände in den nds. Erstaufnahmeeinrichtungen in der Tat untragbar. Bundes- und Landesregierung haben in den letzten Tagen weit reichende Beschlüsse gefasst und Geld bereit gestellt. Ziel ist die Rückkehr zu menschenwürdigen Aufnahmebedingungen ohne Zelte und Provisorien.
Die Unterbringung muss flexibilisiert werden!
Der aktuelle, auf eine „gleichmäßige Belastung“ orientierte Verteilungsschlüssel muss überarbeitet werden. Kommunen, die Flüchtlinge über die Quote hinaus aufnehmen wollen, sollten zusätzliche Anreize durch das Land erhalten.Es ist nicht zielführend, dass in manchen Kommunen Wohnraum frei ist, weil nach der quotierten Verteilung keine weiteren Flüchtlinge aufgenommen werden müssen, während andere Kommunen Container aufbauen müssen.
Auszugsmanagement in Gemeinschaftsunterkünften
Es ist enorm wichtig, dass die Kommunen in Kooperation mit dem Land nachhaltige Aufnahmekonzepte entwickeln, die den hier ankommenden Menschen dauerhafte Perspektiven bieten. Die Kommunen in Niedersachsen leisten vielerorts bereits engagierte Arbeit, um die Flüchtlinge gut unterzubringen. Das begrüßen wir. Doch es gibt auch deutliche Defizite bei der weiteren Planung der Unterbringung in Wohnungen.
Informationsportal „Wohnen für Flüchtlinge“ zur Klärung von Rechtsfragen
Förderung von Projekten zum Thema Wohnunterbringung nach dem Beispiel des EJF-Projekts in Berlin
Änderung des WoFG und der LänderWoFG, um die Erteilung von Wohnberechtigungsscheinen zur Anmietung von Sozialwohnungen auch für Asylsuchende und Geduldete zu ermöglichen
Weg mit den alten Zöpfen einer auf die Ausgrenzung in Lagern setzenden Flüchtlingspolitik!
Diese Politik ist gescheitert und sollte nicht auf dem Umweg über eine Balkandebatte wieder in die Flüchtlingspolitik Einzug halten, im Gegenteil: Der §53 AsylVerfG, der die Unterbringung von Flüchtlingen in Lagern als Soll-Vorschrift vorgibt, muss abgeschafft werden. Unterstützung der Wohnungssuche durch die Regeldienste, Regelung der Bedarfe für Unterkunft und Verpflegung entsprechend § 22 SGB II auch für Flüchtlinge
Selbsthilfekräfte der Flüchtlinge nutzen und stärken
Verzicht auf Wohnsitzauflagen und behördliche Behinderungen der Integration, Ermöglichung von eigenaktiver Wohnungs- und Arbeitssuche ohne Beschränkungen. Modifizierung des Verteilerschlüssels.
3. Abläufe im Asylverfahren entbürokratisieren und beschleunigen
- Das BAMF muss in den Stand versetzt werden, innerhalb von drei Monaten über Asylanträge zu entscheiden. Die Registrierung, Ausstellung von Ausweispapieren etc. muss sofort erfolgen. Eine Verlängerung des Aufenthalts in der Erstaufnahme verzögert nicht nur die Integrationsprozesse, sondern belastet die physische und psychische Verfassung der leidgeplagten Flüchtlingen in völlig überfüllten Aufnahmelagern in unerträglicher Weise!
- Sachleistungen außerhalb von Erstaufnahmeeinrichtungen, verkürzte Duldungsbescheinigungen und andere Schikanen sind ein Rückfall in überwunden geglaubte Abschreckungslogiken. Will die Bundesregierung die rund 10.000 geduldeten Flüchtlinge aus dem Irak und Afghanistan darüber zur Ausreise bewegen?
- Widerrufsverfahren sind überflüssig und sollten beendet werden
- Trotz 250.000 unerledigten Verfahren hält das BAMF weiterhin an Dublinverfahren fest. Diese Verfahren sind kostenintensiv, aufwändig, und sie beanspruchen erhebliche Ressourcen und Kompetenzen, die besser zur inhaltlichen Prüfung von Asylanträgen genutzt werden sollten
4. Flüchtlinge aus den Balkan-Staaten : Es fehlt eine stimmige Strategie Europas im Umgang mit Asylsuchenden
Die Betroffenen dürfen keinen Stereotypien unterworfen werden. Jeder Fall muss individuell geprüft und das Vorliegen einer „kumulativen“ Verfolgung“ ernsthaft ins Auge gefasst werden. Die von der Regierungskoalition darüber hinaus beschlossene Ermöglichung von Beschäftigungsverhältnissen für Angehörige aus den Balkanstaaten ist zu begrüßen!
Rhetorik in Politik und Medien
Die Einteilung/ Dichotomie „gute“ und „schlechte“ Flüchtlinge muss beendet werden. Diese Rhetorik und Diffamierung breiter Flüchtlingsgruppen heizt die rechtspopulistische Stimmungsmache an und verbietet sich besonders angesichts der vermehrten Angriffe auf Flüchtlinge. Die Stellung eines Asylantrags ist immer zuerst die Ausübung eines Rechts und in keinem Fall ein Asylmissbrauch.
5. Schule und Ausbildung
Flüchtlingskinder müssen eine angemessene Beschulung in den Regelschulen ab dem ersten Tag der Einreise erhalten. Dies klappte in Niedersachsen nicht überall. Die Organisation der Bildung und Qualifizierung ist von zentraler Bedeutung für die weitere Zukunft dieser Kinder. Die Landesregierung hat jetzt wichtige Beschlüsse zur Deckung des vorhandenen Bedarfs gefasst und mehr als 250 zusätzliche Stellen bewilligt, was wir uneingeschränkt begrüßen. Besonders freuen wir uns, dass endlich auch für 18-21-jährige ein Berufsschulbesuch mit begleitendem Sprachunterricht ermöglicht werden soll!
6. Sprachkurse für alle Flüchtlinge
Die Integrationskurse müssen endlich für alle Asylsuchenden und geduldeten Flüchtlinge geöffnet werden. Es widerspricht der viel beschworenen Willkommenskultur, Asylsuchenden Zugänge zum Spracherwerb und damit zu einem wichtigen Integrationsmittel zu versperren. Gut gemeinte Programme u.a. auch des Landes Niedersachsen zur Arbeitsmarktintegration und -beratung von Asylsuchenden bereits in der Erstaufnahme gehen ins Leere und drohen zu scheitern, wenn eine Sprachförderung nicht gewährleistet wird. Die Bereitstellung zusätzlicher Erwachsenenbildungsmittel für Sprachkurse sowie die Unterstützung ehrenamtlicher Sprachvermittlung, wie sie das Land jetzt beschlossen hat, ist hilfreich, ersetzt aber nicht das Regelangebot !
7. Konsistente Beschäftigungsförderung!
Zur Ermöglichung einer Beschäftigung von Flüchtlingen fordern wir die Abschaffung der Wartezeit, der Arbeitsmarktprüfung und des ausländerrechtlichen Arbeitsverbotes für Geduldete Außerdem muss eine systematische Einbeziehung in die Beschäftigungsförderung erfolgen. Für Asylsuchende muss ab dem ersten Tag ein Zugang zu BAFöG und BAB ermöglicht werden. Das Asylbewerberleistungsgesetz sollte endlich abgeschafft bzw. der Leistungsbezug nach AsylbLG auf die Dauer der Unterbringung in der Erstaufnahme beschränkt werden. Danach sollten alle Asylsuchenden in das SGB II übergeleitet werden!
8. Vereinheitlichung der medizinischen Standards
Die diskriminierende Beschränkung ärztlicher Leistungen in den ersten 15 Monaten sollte abgeschafft werden. Leistungseinschränkungen nach Status sind entwürdigend und mit unserer Verfassung nicht vereinbar Die Überleitung der Leistungsansprüche in SGB II oder SGB XII ist deshalb der einzige und richtige Weg. Jede_r sollte eine Chipkarte nach dem Modell in NRW erhalten.
9. Ausbau der Flüchtlingssozialarbeit
Uneingeschränkt zu begrüßen ist die Aufstockung des Landesprogramms zur Gewährleistung einer dezentralen Flüchtlingssozialarbeit um 5 Millionen Euro. Auch mit dem Aufbau eines Sonderfonds für Ehrenamtliche in der Flüchtlingshilfe setzt die Landesregierung ein wichtiges Signal zur Stärkung der Arbeit vieler Menschen, die aktiv und konkret vor Ort dafür sorgen, dass Flüchtlinge in der Gesellschaft ankommen.
Dündar Kelloglu und Kai Weber
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