Quelle: Süddeutsche Zeitung 23.05.2011
Renate Jaeger, bis vor kurzem Richterin am Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR), hat sich für eine großzügigere Praxis beim Bleiberecht von Flüchtlingen ausgesprochen. Bisher sei deren Schutz in Deutschland zu sehr auf das politische Asyl verengt. Dabei könne das Armutsgefälle in der Welt ebenso wichtige Gründe für Migration liefern. Gleiches gelte für das Leben in einem tyrannisch regierten Staat, auch wenn noch keine konkrete Verfolgung drohe. ‚Die Fixierung der Garantien unserer Verfassung nur auf die politische Verfolgung schwächt die anderen Argumente‘, sagte Jaeger am Montag bei der Vorstellung des ‚Grundrechte-Reports 2011‘. Jaeger – bis 2004 am Bundesverfassungsgericht – plädiert dafür, solche Fluchtursachen stärker in die Entscheidung über eine Abschiebung einzubeziehen: ‚Jemanden in den Hungertod zurückzuschicken, ist nicht weniger schlimm, als jemanden in den Kerker zurückzuschicken.‘
Der zum 15. Mal erschienene Grundrechte-Report – ein von acht Bürgerrechtsorganisationen herausgegebener alternativer Verfassungsschutzbericht – stellt in einem Beitrag dar, wie sich aus individuellen Gründen ein Schutz gegen einen Ausweisungs-Automatismus ableiten lässt. Angestoßen durch den EGMR, hatte das Bundesverfassungsgericht 2007 angeordnet, vor einer Ausweisung müsse immer deren Verhältnismäßigkeit geprüft werden. Das führte dazu, dass auch die in Deutschland entstandenen sozialen Beziehungen des Betroffenen berücksichtigt werden müssen.
In einem weiteren Aufsatz weist der Heidelberger Rechtsanwalt Martin Heimig auf eine – scheinbar unproblematische – Änderung beim Rechtsschutz gegen Abschiebehaft hin: Seitdem nicht mehr die Oberlandesgerichte, sondern der Bundesgerichtshof über eine Beschwerde zu entscheiden habe, dauerten die Verfahren länger – so dass die Ausländer oft schon vorher abgeschoben würden. Das sei deshalb ‚dramatisch‘, weil der Bundesgerichtshof bisher in 70 Prozent der Fälle zugunsten der Abgeschobenen geurteilt habe.
Kritik übt der Report auch an der Abschiebung von Roma in den Kosovo, die auf ein Rücknahmeabkommen vom vergangenen Jahr zurückgeht, Vor allem Kinder und Jugendliche seien davon bedroht, denn etwa die Hälfte der 12000 von der Ausreisepflicht bedrohten Roma sei jünger als 18 Jahre. Fast zwei Drittel seien in Deutschland geboren oder aufgewachsen, viele sprächen kaum Albanisch oder Serbisch. Drei von vier aus Deutschland zurückgekehrten Kinder gingen im Kosovo nicht mehr zur Schule; jedes dritte Kind habe nicht ausreichend zu essen.
Jaeger lobte den Grundrechte-Report als wichtige ‚Nachhilfe‘ für die Gesellschaft, wies allerdings auch auf Versäumnisse hin. Aus ihrer Sicht müssten sich die Organisationen auch mit der ‚Gefährdung der Bürgerrechte durch Geldinteressen‘ befassen – also mit dem Umstand, dass häufig nicht genug Geld da sei, um den Fördergeboten und Schutzpflichten der Verfassung zu genügen. Denn hinter der Sozialhilfe stehe das Grundrecht auf ein menschenwürdiges Dasein, die Förderung von Familien habe ihre Grundlage in verfassungsrechtlich geschützten Positionen, auch Jugendliche mit Migrationshintergrund hätten einen Anspruch auf Hilfe bei der Eingliederung.
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