Der Flüchtlingsrat Niedersachsen appelliert an das Land Niedersachsen, die Abschiebung des politischen Schutzsuchenden Mehmet Çakas zu stoppen!
Im April 2024 wurde der kurdische Aktivist nach einem aufsehenerregenden Prozess in Deutschland wegen Unterstützung der auch in Deutschland verbotenen PKK im Zeitraum von 2019 – 2021 zu einer Freiheitsstrafe von zwei Jahren und zehn Monaten verurteilt. Nach Auffassung des Oberlandesgerichts Celle hat Mehmet Çakas organisatorische, finanzielle und propagandistische Aktivitäten für die PKK in Deutschland koordiniert (Spendenkampagne, die Organisation von öffentlichkeitswirksamen Kundgebungen, Koordinationstätigkeiten). Diese Verurteilung stellt für das BAMF aber keinen Grund dar für eine Neubewertung der Verfoolgungsgefahr. Auch das Verwaltungsgericht Lüneburg sieht keinen Anlass für eine erneute Prüfung des Falls und benennt dafür v.a. formale Aspekte: Die Verfolgungsgründe hätten allesamt schon im ersten Asylverfahren vorgebracht werden können, das 2021 eingestellt wurde. Die Verurteilung selbst stelle keine neue Sachlage dar, die zum Wiederaufgreifen führen könnte.
Dabei liegt es auf der Hand, dass Mehmet Çakas im Fall einer Abschiebung absehbar in den Fokus der türkischen Verfolgungsbehörden gerät. Der Flüchtlingsrat kritisiert, dass das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) bei der Beurteilung von Staatsschutzdelikten eine Gleichschaltung der Interessen von Herkunfts- und Fluchtstaat vornimmt und ein rechtsstaatliches Verfahren in der Türkei unterstellt. Auch die Verwaltungsgerichte übernehmen teilweise die neue Linie des BAMF und unterstellen ein rechtsstaatliches Verfahren in der Türkei, obwohl Tausende von Menschen in der Türkei nach politischen Prozessen abgeurteilt wurden und teilweise bis heute unschuldig in Haft sitzen.
Kai Weber, Geschäftsführer beim Flüchtlingsrat Niedersachsen:
„Die Weigerung des BAMF, die Verfolgung des Mehmet Çakas im Lichte der erfolgten Verurteilung in Deutschland neu zu prüfen, ist inakzeptabel! Die Türkei ist kein Rechtsstaat! Zu befürchten ist, dass Mehmet Çakas nach seiner Verurteilung in Deutschland in der Türkei angeklagt und zu einer weiteren drakonischen Freiheitsstrafe verurteilt wird. Wir fordern das Land Niedersachsen auf, die Abschiebung auszusetzen und zumindest das Hauptsacheverfahren abzuwarten.“
Nach dem Putsch 2016 in der Türkei wurden bis März 2019 über 500.000 Ermittlungsverfahren gegen missliebige Personen eingeleitet. Über 30.000 Menschen wurden inhaftiert und fast 20.000 auch verurteilt. Über 150.000 Staatsbedienstete wurden in diesem Zeitraum entlassen. Menschen, denen eine oppositionelle Tätigkeit für die PKK vorgeworfen wird, haben in der Türkei kein faires Verfahren zu erwarten. Und die Verfolgung geht weiter:
„Die Kommissarin ist alarmiert über die Tatsache, dass die türkische Justiz, insbesondere in Fällen mit Terrorismusbezug, ein noch nie dagewesenes Maß an Missachtung selbst der grundlegendsten Rechtsprinzipien an den Tag legt“, brachte es ein Bericht des Menschenrechtskommissariats des Europarats bereits im Februar 2020 auf den Punkt. Im September 2023 verurteilte das Europäische Parlament unter anderem „die mangelnde Unabhängigkeit der [türkischen] Justiz und die politische Instrumentalisierung des Justizsystems“ und verwies auf anhaltende Angriffe auf die Grundrechte etwa von Oppositionellen und Angehörigen von Minderheiten durch juristische und administrative Schikane.
Ein von PRO ASYL in Auftrag gegebenes, im September 2024 veröffentlichtes Rechtsgutachten „Zur Lage der Justiz in der Türkei. Rechtsunsicherheit in Strafverfahren mit politischem Bezug“ belegt, dass in der Türkei Strafverfahren genutzt werden, um unliebsames politisches Handeln zu bestrafen. „Strafverfahren mit politischem Bezug sind in der Türkei zu einer Farce verkommen. Willkürliche Verfahren und Haftstrafen sind an der Tagesordnung“, erklärte Wiebke Judith, rechtspolitische Sprecherin von PRO ASYL.
Das 140-seitige Gutachten zeigt auf, dass Strafverfahren, die auf terrorismusbezogenen Vorwürfen basieren, regelmäßig rechtsstaatliche Kriterien unterlaufen: Die zugrunde gelegten Straftatbestände sind nicht klar definiert. Anklagen und Verurteilungen stützen sich häufig auf fragwürdige Beweise, etwa auf Aussagen „geheimer“ Zeug*innen, die von Anwält*innen nicht befragt werden können. Umstrukturierungen und Neubesetzungen etwa von Gerichten haben die Unabhängigkeit der Strafjustiz erheblich beeinträchtigt, die richterliche Unabhängigkeit ist nicht mehr gewährleistet. Betroffene Personen haben damit keine Möglichkeit, sich effektiv zu verteidigen. Sie erwartet kein faires Verfahren.
Auch Mehmet Çakas müsste in der Türkei mit politischer Verfolgung rechnen. Er darf nicht abgeschoben werden.
Hintergrund: Politische Verfolgung in der Türkei wird vom BAMF verharmlost
Dazu Rechtsanwalt Dündar Kelloglu vom Vorstand des Flüchtlingsrats Niedersachsen:
„Je deutlicher die Abhängigkeit der türkischen Justiz von der Regierung wird, desto intensiver wird die Behauptung des BAMF, dass den türkischen Flüchtlingen in der Türkei ein faires Verfahren erwarte.
Die Tragik ist, dass einige deutsche Gerichte, in Niedersachsen insbesondere das VG Braunschweig, dieser offensichtlich rechtswidrigen Argumentation des BAMF folgen“.
Beispielfälle aus der Praxis
- Vor drei Monaten hat die Stadt Wolfsburg versucht, den Kurden aus der Türkei Mehmet G. in Abschiebehaft zu nehmen und ihn in die Türkei abzuschieben. Das Amtsgericht Hannover hielt die Anordnung der Abschiebehaft jedoch für rechtswidrig und ordnete an, den Kurden aus der Abschiebungshaft zu entlassen. Zwei Wochen später wurde Mehmet G. erneut inhaftiert, um ihn von Hamburg aus abzuschieben. Auch das Amtsgericht Hamburg verweigerte die Ingewahrsamnahme und ordnete erneut die Freilassung an. Per Eilantrag beim Verwaltungsgericht Braunschweig stoppte der Anwalt auch die Abschiebung. Allerdings sah das VG Braunschweig gar kein Problem in der Verurteilung des Mehmet G. wegen verbaler Unterstützung der PKK zu einer drakonischen Haftstrafe von vier Jahren und zwei Monaten und stoppte die Abschiebung „nur“ wegen der fehlenden Zusicherung der Türkei, die Haftbedingungen menschenrechtskonform auszugestalten. Mehmet G. droht in der Türkei weiterhin die Inhaftierung aus politischen Gründen.
- Mehmet C. stellte Anfang 2025 einen Asylfolgeantrag. Vor Ablauf der Klagefrist ließ die Region Hannover den Betroffenen in Abschiebungshaft nehmen, obwohl keine Fluchtgefahr vorlag. Am 17.06.2025 sollte Mehmet C. in die Türkei abgeschoben werden. In letzter Minute konnte die Abschiebung vor dem VG Hannover gestoppt werden.
- Ergün D. stellte im Mai 2025 einen Asylfolgeantrag. Die Landeshauptstadt Hannover ließ ihn in Abschiebungshaft nehmen. Ergün D. wurde am 18.06.2025 vom Bundesamt in der JVA Langenhagen angehört. Der ablehnende Bescheid wurde am 19.06.2025 zwar der Ausländerbehörde, nicht aber dem Rechtsanwalt von Ergün D. zugestellt. Am 24.06.2025 leitete die Landeshauptstadt Hannover die Abschiebung ein. Erst jetzt erfuhr der Anwalt von der Ablehnung des Antrags und stellte am 24.06.205 um 09:30 Uhr bei dem VG Hannover einen Eilantrag. Das Gericht intervenierte daraufhin und informierte das Bundesamt telefonisch, dass der Abschiebungsversuch zu stoppen sei. Zehn Minuten vor dem Abflug setzte die Ausländerbehörde die Abschiebung aus, hielt aber die Inhaftierung weiter aufrecht.
Erst nach dem Abschiebungsversuch sandte das Bundesamt den Anwalt den Bescheid. Hier sollte offensichtlich die Einlegung eines Rechtsmittels vereitelt werden. Inzwischen hat das VG den Eilantrag abgelehnt. - Hamit K. wird in der Türkei wegen Äußerungen auf seinem Facebook-Account, die als „pro PKK“ verstanden werden konnten, politisch verfolgt. Daraus könne, so das VG Braunschweig, jedoch nicht geschlossen werden, „dass eine Verfolgung im Sinne des Flüchtlingsrechts vorliegt“. Staatliche Maßnahmen, die allein der Terrorismusbekämpfung dienten, seien nicht als politische Verfolgung zu werten, wenn sie „nicht über das hinausgehen, was auch bei der Ahndung sonstiger krimineller Taten ohne politischen Bezug regelmäßig angewandt wird“. Dass dem Antragsteller ein Politmalus drohe, sei derzeit nicht zu erkennen.
Wenn Sie individuell Beratung und Unterstützung brauchen, wenden Sie sich bitte an ...