Bezahlkarte: Was zählt der rot-grüne Koalitionsvertrag?

Die sogenannte Bezahlkarte für Asylsuchende soll auch in Niedersachsen kommen, das hat das niedersächsische Innenministerium angekündigt. Aber ist eine solche Karte mit den Verabredungen vereinbar, die sich in Niedersachsen aus dem Koalitionsvertrag zwischen der SPD und BÜNDNIS 90/ GRÜNE ergeben?

Zweifel daran ergeben sich schon aus der Begründung, die der Einführung einer Bezahlkarte zugrunde liegt. Abgestellt wird hier darauf, dass die Möglichkeit unterbunden werden solle, Überweisungen ins Ausland zu tätigen, um z. B. sogenannte Schlepperbanden zu bezahlen oder Familien oder Freund:innen Geld zu senden. Darüber hinaus soll auch die Summe der Barabhebung beschränkt werden, da Bargeld angeblich ein „Pull-Faktor“ sei, der dazu beitrage, Deutschland für Flüchtlinge attraktiv zu machen. Schließlich wird ins Feld geführt, dass durch dieses Verfahren Verwaltungsaufwände und damit einhergehend Kosten gesenkt würden.

Die Argumente halten einer wissenschaftlichen Überprüfung jedoch nicht stand. Es wurde keinerlei belastbares Datenmaterial vorgelegt. Dass Fluchthilfeleistungen in der Regel im Voraus zu begleichen sind, dürfte den Verantwortlichen ebenso bekannt sein wie die Tatsache, dass vor allem familiäre Beziehungen und Fragen der Sicherheit für die Entscheidung über das Fluchtland ausschlaggebend sind. Bezüglich der Kosten ist nach den bisherigen Informationen sogar mit einem höheren Aufwand zu rechnen. Alle Versuche einer Rechtfertigung im Hinblick auf Auslandsüberweisungen oder den Pull-Faktor Bargeld beruhen ledoglich auf Anekdoten und sind wissenschaftlich nicht belegt. Sie tragen damit zu einem Populismus bei, der in einer seriösen Politik nichts zu suchen haben sollte.

Bei Betrachtung des Koalitionsvertrages zwischen SPD und BÜNDNIS90/GRÜNE in Niedersachsen finden sich zahlreiche Passagen, die der Einführung einer diskriminierenden Bezahlkarte schlicht widersprechen. Auch im Hinblick auf das Grundgesetz und die Menschenrechte ist die Vereinbarkeit mehr als zweifelhaft.

Auf S. 118 bezieht die Koalition in allgemeiner Form Position zum Thema Diskriminierung:

1 Diskriminierungsschutz
2 Wir bekennen uns ausdrücklich zu den Antidiskriminierungsrichtlinien der Europäischen Union
3 sowie zum Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetz und werden für deren konsequente Umset-
4 zung Sorge tragen.

Grundlage der Bezahlkarte ist die „Konstruktion von Differenz“: Unter Zugrundelegung der o.g. Zielvorgaben begründet und rechtfertigt die Politik eine ungleiche, benachteiligende und ausgrenzende Behandlung einer Gruppe von Menschen ohne sachlich gerechtfertigten Grund – und genau das ist Diskriminierung. Dass es auch anders ginge, macht die Landeshauptstadt Hannover vor, die mit ihrer „social card“ eine diskriminierungsfreie Bezahlkarte eingeführt hat – und zukünftig offenbar verpflichtet werden soll, Diskriminierungen auch in Hannover vorzunehmen.

Bereits in der Präambel des Koalitionsvertrages finden sich Punkte, die als Argumente gegen die Bezahlkarte gelesen werden können, vgl. S. 3 und 4:

18 In Niedersachsen gut und sicher leben – sozialen Zusammenhalt stärken
[…]
30 Wir möchten, dass Niedersachsen ein gutes Zuhause für alle Menschen ist und alle Menschen
31 die gleichen Chancen haben. Unabhängig von geschlechtlicher Identität, Herkunft, Einkom-
32 men, Religion, Sprache, sexueller Orientierung oder Alter sind alle ein gleichwertiger Teil un-
33 serer Gesellschaft. Alle Menschen, die bei uns leben, sollen die gleichen Chancen haben, sich

1 in unserem Land frei und in Sicherheit zu verwirklichen und ein eigenständiges Leben aufzu-
2 bauen. Wir bekämpfen Demokratie- und Menschenfeindlichkeit in jeder Form.
3 Chancengerechtigkeit, Transparenz und ein gelebtes Miteinander stehen im Mittelpunkt
4 unserer Gesellschaftspolitik.

1 7. Migration und Integration

2 Niedersachsen ist ein weltoffenes und vielfältiges Land. Grundlage für ein gutes Zusammen-
3 leben ist, dass alle Menschen frei von Angst und Diskriminierung leben können. Deshalb wer-
4 den wir in Niedersachsen den gesellschaftlichen Zusammenhalt stärken. Wir bekämpfen Ras-
5 sismus mit aller Kraft und wollen unsere Einwanderungsgesellschaft so gestalten, dass alle
6 Menschen die gleichen Chancen haben.

8                                                                                        […] Wir wollen, dass alle ankommenden Ge-
9 flüchteten in Niedersachsen gleichbehandelt werden und ihnen möglichst schnell ein selbst-
10 bestimmtes Leben ermöglicht wird.

Noch am 27.04.2023 hat Sozialminister Dr. Andreas Philippi diese Zielsetzung in einer Presseerklärung bekräftigt und ausgeführt:

„Ich kann nicht akzeptieren, dass Menschen unterschiedlich behandelt werden und dadurch nicht die gleichen Lebenschancen haben.“

Ausdrücklich sieht die Koalitionsvereinbarung die Verabschiedung eines Landes-Antidiskriminierungsgesetzes und eines Teilhabe- und Partizipationsgesetzes vor:

15 Teilhabe- und Partizipationsgesetz

16 Mit einem Teilhabe- und Partizipationsgesetz schaffen wir gute Bedingungen für die gleichbe-
17 rechtigte Teilhabe in verschiedenen Bereichen des gesellschaftlichen Lebens. Das Gesetz soll
18 außerdem die Migrationsstrukturen auf Landesebene und kommunaler Ebene stärken.

Unverständlich ist, dass die Einführung einer elektronischen Bezahlkarte bislang nicht mit der Einführung einer elektronischen Gesundheitskarte verknüpft wird, obwohl eine entsprechende Prüfung im Koalitionsvertrag vereinbart wurde, siehe S. 95:

20                                                                                                            […] Um den diskriminierungs-
21 freien Zugang zu medizinischer Versorgung zu sichern, werden wir die Finanzierung einer
22 Gesundheitskarte für Geflüchtete prüfen.

Die flächendeckende Einführung einer Gesundheitskarte wird bislang von den Kommunalen Spitzenverbänden mit der Begründung blockiert, die Kosten wären zu hoch. Es wäre jedoch blanker Hohn, wenn die Sozialleistungen zukünftig auf eine Bezahlkarte gebucht würde, für das Aufsuchen eines Arztes aber weiterhin die vorherige Beantragung eines analogen Krankenscheins beim Sozialamt erforderlich gemacht würde. Abgesehen davon, dass dieser Ablauf eine notwendige Behandlung oftmals auf unerträgliche Weise verzögert und damit die Gesundheit der Betroffenen gefährdet, wäre in diesem Bereich eine Vereinfachung der Verwaltungsabläufe mehr als naheliegend. Andere Bundesländer (z.B. Schleswig-Holstein) haben längst vorgemacht, dass die Einführung einer Gesundheitskarte auch für Geflüchtete flächendeckend und ökonomisch möglich ist.

Kunst, Kultur und Teilhabe S. 78
33 Kunst und Kultur sind elementare Bausteine offener und demokratischer Gesellschaften.

Die Möglichkeit, an kulturellen Veranstaltungen teilzunehmen oder kulturelle Einrichtungen zu besuchen, sollte somit auch allen in Niedersachsen lebenden Menschen gleichermaßen gegeben sein. Dazu findet sich auf S. 81 der Hinweis:

16 […] Kulturelle Vielfalt ist für uns Ausdruck gesellschaftlicher Stärke. Wir wollen daher mög-
17 lichst viele Menschen aus verschiedenen Milieus und Generationen zusammenbringen. Der
18 Zugang zu Kunst und Kultur darf nicht von Herkunft, Alter, finanzieller Lage, Behinderung oder
19 Wohnort abhängig sein. Wir wollen Teilhabemöglichkeiten ausbauen. Dazu gehören auch bar-
20 rierefreie Zugänge und Kommunikation in Leichter Sprache.

Es ist davon auszugehen, dass Menschen aufgrund der Bezahlkarte massiv in ihren Möglichkeiten zur Teilhabe eingeschränkt werden, was aber völlig konträr zum vereinbarten Ziel ist. Das wiederum könnte sich sogar verschlechternd auf den Gesundheitszustand der Betroffenen auswirken.

Auf S. 108 steht zum Thema Sport:

15                                                                             […] Der Sport leistet in seiner gesamten Breite und
16 in seiner Vielfalt einen wichtigen Beitrag zur aktiven Freizeitgestaltung und zu gesunder Le-
17 bensführung und übernimmt wichtige soziale Funktionen. Er steht für Integration und Inklusion
18 und vermittelt grundlegende Werte für unser Gemeinwesen.

Viele Flüchtlinge sind traumatisiert und fühlen sich einsam, zudem leben sie mit Unsicherheit und Angst im Hinblick auf ihre Perspektiven. Sport kann sowohl präventiv als auch therapiebegleitend ein wichtiger Baustein sein. Zudem bietet Sport gerade auch Kindern und Jugendlichen eine gute Möglichkeit, sich angenommen und eingebunden zu fühlen und dabei spielerisch die Sprache zu erlernen. Insofern dürfen Zugangsmöglichkeiten hier in keinem Fall eingeschränkt werden.

Aufgrund der bisherigen Informationen zur Ausgestaltung der Bezahlkarte muss davon ausgegangen werden, dass Flüchtlingen eine Mitgliedschaft in einem Verein nicht möglich sein wird: Weder die Mitgliedschaft noch der monatliche Beitrag wird in den meisten Vereinen in Präsenz und mit Bezahlkarte zu begleichen sein.
Soweit eine Ausrüstung für den Sport erforderlich ist, muss es möglich sein, diese gebraucht oder günstig im Online-Handel kaufen zu können.

Fazit

Eine Bezahlkarte bewirkt auf vielen Ebenen einen gesellschaftlichen Ausschluss von Geflüchteten – jedenfalls dann, wenn sie mit Einschränkungen wie dem Verbot, Überweisungen vorzunehmen oder Geld abzuheben, verbunden ist. Wenn die Landesregierung es ernst meint mit ihrem Vorhaben, Diskriminierungen zu bekämpfen und die Teilhabe von Geflüchteten zu verbessern,  muss sie die Bezahlkarte entweder nach dem Vorbild der Landeshauptstadt Hannover diskriminierungsfrei gestalten oder ganz darauf verzichten.

 

 

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