Vier Jahre nach der Tötung von Aman A. durch die Polizei – Flüchtlingsrat fordert Aufklärung

Am 17. August 2019 wurde der 19-jährige afghanische Geflüchtete Aman A. im Landkreis Stade von der Polizei erschossen. Auch vier Jahre danach sind die Umstände des tödlichen Polizeieinsatzes nicht aufgeklärt. Der Flüchtlingsrat und die BI Menschenwürde fordern von der Landesregierung daher erneut, einen parlamentarischen Untersuchungsausschuss einzurichten und Konsequenzen für das polizeiliche Handeln zu ziehen.

Mindestens vier Menschen mit Fluchtgeschichte starben allein in den vergangenen vier Jahren in Niedersachsen in der Folge von Polizeieinsätzen: Aman Alizada im August 2019 im Landkreis Stade, Mamadou Alpha Diallo im Juni 2020 im Landkreis Emsland, Qosay K. im März 2021 in Delmenhorst sowie Kamal I. im Oktober 2021 im Landkreis Stade. Am Neujahrestag 2023 starb ein Schwarzer im Polizeigewahrsam in Braunschweig.

All diesen fünf Todesfällen ist gemein, dass sie nie durch ein Gericht aufgeklärt wurden, da die zuständigen Staatsanwaltschaften sämtliche Ermittlungsverfahren gegen die beteiligten Polizist:innen – trotz zahlreicher offener Fragen – eingestellt haben. Die Staatsanwaltschaften vor Ort sind durch die tagtägliche Zusammenarbeit offenbar zu sehr mit der Polizei verbunden, als dass sie eine unabhängige Aufklärung gewährleisten könnten.

Muzaffer Öztürkyilmaz, Geschäftsführung, Flüchtlingsrat Niedersachsen

Die Landesregierung muss diese tödlichen Polizeieinsätze im Rahmen eines parlamentarischen Untersuchungsausschuss lückenlos aufklären und Konsequenzen für die Einsatzkonzepte der Polizei ziehen, damit sich derartige Tragödien nicht wiederholen. Allenfalls eine umfassende Aufklärung der Todesfälle kann verhindern, dass das Vertrauen von Geflüchteten und Migrant:innen in die Polizei und den Rechtsstaat weiter schwindet, zumal Geflüchtete und Migrant:innen aufgrund von racial profiling überdurchschnittlich häufig und meist ohne ersichtlichen Anlass von der Polizei kontrolliert werden.“

Ingrid Smerdka-Arhelger von der Bürgerinitiative Menschenwürde

„Der Untersuchungsausschuss muss die gesamten Lebensbedingungen der Geflüchteten in den Blick nehmen und neben der Polizei auch alle anderen einschlägigen Behörden und Institutionen einbeziehen. Wahrscheinlich hätten drei der vier Todesfälle allein durch eine bessere psychosoziale Betreuung verhindert werden können. Wenn Polizeieinsätze bei psychisch kranken Geflüchteten wiederholt tödlich enden, muss dies nicht nur eine umfängliche Aufarbeitung nach sich ziehen, sondern auch zu Änderungen in den Einsatzkonzepten der Polizei führen.“

Den Behörden war bekannt, dass sowohl Aman Alizada und Mamadou Alpha Diallo als auch Kamal Ibrahim psychisch erkrankt waren. Alle drei befanden sich in psychischen Ausnahmesituationen, als die Polizist:innen auf sie schossen. Immer wieder setzt die Polizei Schusswaffen ein, wenn sie auf psychisch erkrankte Geflüchtete trifft.

So auch im Mai dieses Jahres in Hannover: Ein Geflüchteter wurde in seiner Gemeinschaftsunterkunft von Polizist:innen angeschossen, weil sie sich bedroht fühlten. Die psychischen Probleme des Geflüchteten waren so gravierend, dass die Behörden ihm zuvor sogar einen Betreuer zur Seite gestellt hatten.

Unter anderem in Reaktion auf die Tötung der Geflüchteten haben der Flüchtlingsrat Niedersachsen, die Bürgerinitiative Menschenwürde und 19 weitere Organisationen in einer gemeinsamen Stellungnahme zu “Gewalterfahrungen von Migrantinnen und Migranten durch die Polizei“ im Rahmen der Kommission für Migration und Teilhabe im Oktober 2021 die nachfolgenden fünf zentrale Forderungen an die Landesregierung gestellt:

  • 1. Unabhängige Beschwerde- und Ermittlungsstelle
  • 2. Mehr Transparenz und Fehlerkultur
  • 3. Racial Profiling explizit verbieten
  • 4. Eine Rassismusstudie über die Polizei in Niedersachsen in Auftrag geben
  • 5. Sensibilisierung in Polizei, Politik und Behörden gewährleisten

Geschehen ist bislang allerdings nichts.

Kontakt

Flüchtlingsrat Niedersachsen
Muzaffer Öztürkyilmaz, Geschäftsführung
0511 – 98 24 60 38
moy(at)nds-fluerat.org, nds(at)nds-fluerat.org

Bürgerinitiative Menschenwürde
Ingrid Smerdka-Arhelger
04161 – 62464
Smerdka-arhelger@t-online.de

Hintergrund

Am 17. August 2019 wird der aus Afghanistan stammende 20-jährige Geflüchtete Aman Alizada bei einem Polizeieinsatz in seiner Unterkunft in Stade erschossen. Ein Mitbewohner ruft die Polizei, weil sich Aman in einer psychischen Ausnahmesituation befindet. Die Ermittlungen gegen den Beamten, der die tödlichen Schüsse abgab, werden durch die Staatsanwaltschaft Stade mit der Begründung, dass „glasklare Notwehr“ vorgelegen habe, eingestellt. Auch die Generalstaatsanwaltschaft Celle weist eine Beschwerde gegen die Einstellung des Verfahrens ab und verhindert so, den genauen Tathergang aufzuklären.

Im Juni 2020 schießen Polizebeamt:innen den 23-jährigen Mamadou Alpha Diallo in Twist im Landkreis Emsland an, als sie sich durch den mit einem Messer bewaffneten jungen Mann angegriffen sehen. Mamadou Alpha Diallo stirbt in der Nacht zum 19. Juni 2020 an der Schusswunde. Auch in diesem Fall wurde die Polizei gerufen, weil sich der bekanntermaßen psychisch kranke Mann in einer Krisensituation befand. Und auch in diesem Fall sieht die Staatsanwaltschaft keinen Anlass, Anklage gegen die beteiligten Polizist:innen zu erheben, weshalb sie die Ermittlungen einstellt.

In der Nacht von 5. auf den 6. März 2021 stirbt der 19-jährige Qosay Khalaf nach einem Polizeieinsatzes mit Pfefferspray und körperlicher Gewalt im Krankenhaus. Noch bevor die Todesursache festgestellt ist, verkündet die Polizeiführung, die Polizei habe sich korrekt verhalten. Die Staatsanwaltschaft Oldenburg stellt ein von den Angehörigen angestrebtes Verfahren ein.

Mit 13 Schüssen aus nächster Nähe wird in der Nacht vom 3. auf den 4. Oktober 2021 im Landkreis Stade der aus dem Sudan geflüchtete Kamal Ibrahim bei einem Polizeieinsatz in seiner Unterkunft in Harsefeld getötet. Kamal Ibrahim, der bei den Behörden als psychisch krank bekannt war, führte ein Messer bei sich. Die Ermittlungen werden in diesem Verfahren ebenfalls eingestellt.

Im Zuge einer Auseinandersetzung in der Neujahrsnacht 2022/23 wird in Braunschweig der 38-jährige Mamadou B. einer Tat bezichtigt, die er nicht begangen hat, sondern deren Opfer er geworden ist. Die Polizei aber nimmt ihn fest. Kurze Zeit später stirbt er im Polizeigewahrsam.

Am Morgen des 17. Mai 2023 schießt ein 24-jähriger Polizist mehrmals auf einen Bewohner der Unterkunft im Stadtteil Vinnhorst im Norden der Stadt, weil dieser Polizistinnen und Polizisten mit einem Messer in der Hand im Innenhof der Unterkunft angegriffen hat. Der Asylsuchende hatte wegen psychischer Probleme einen Betreuer zur Seite gestellt bekommen.

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