Schutzsuchende verzweifeln und sterben in Belarus

Die Situation in Belarus ist für die Betroffenen weiterhin unerträglich. Uns erreichen immer mehr Hilferufe von Angehörigen aus Deutschland, deren Verwandte in Belarus feststecken. Wir stellen zwei Einzelfälle vor.

PRO ASYL und der Flüchtlingsrat Niedersachsen fordern eine sofortige Aufnahme der Schutzsuchenden, die in Belarus gestrandet sind. Da der Zugang von internationalen Hilfsorganisationen, Aktivist:innen und Journalist:innen kaum mehr möglich ist, ist eine eilige Entscheidung notwendig, um die Katastrophe abzuwenden und Menschenleben zu retten. Es braucht jetzt umgehend eine politische Lösung, noch vor Weihnachten.

„Wir erwarten, dass Kanzler Scholz die Leisetreterei und die Politik der stillschweigenden Tolerierung der Aussetzung des Rechtsstaates an den EU-Grenzen beendet“, fordert Günter Burkhardt, Geschäftsführer von PRO ASYL. Die Koalition hat sich im Koalitionsvertrag dazu bekannt, ihre Werte und ihre Rechtsstaatlichkeit nach innen wie außen zu schützen und entschlossen für sie einzutreten – das muss sie nun umgehend tun.

„An den Grenzen Europas wird europäisches Recht gebrochen. Es ist nicht verständlich, warum Europa die Menschen im Wald verhungern und erfrieren lässt, anstatt sie aufzunehmen. Würde Deutschland sich zur Aufnahme der Menschen bereit erklären, so wäre Lukaschenkos Druckmittel demontiert“, kommentiert Aigün Hirsch vom Flüchtlingsrat Niedersachsen.

Belarussische und polnische Grenzschützer stehen sich bewaffnet an der Grenze gegenüber. Die belarussischen Behörden treiben die Schutzsuchenden auf die polnische Seite der Grenze. Die Schutzsuchenden werden aber von den polnischen Grenzschützer:innen wieder zurückgedrängt. Im Grenzgebiet müssen die Betroffenen bei frostigen Temperaturen im Wald ausharren. Für manche hat das ein tödliches Ende (siehe Fallbeschreibung unten). Der Spiegel dokumentiert in seiner neuesten Ausgabe das Leben und den Tod von 17 Geflüchteten an der EU-Grenze zu Belarus.

Selbst wenn Gruppen von Geflüchteten es mehrere Kilometer weit über die Grenze ins polnische Staatsgebiet geschafft haben, sind sie nicht in Sicherheit. Immer wieder berichten Menschen, dass die polnischen Grenzbeamten sie wieder in das Grenzgebiet zurückbringen. Es bleibt den Schutzsuchenden nichts anderes übrig, als immer wieder zu versuchen, die Grenze zu überqueren. Dabei berichten einige, dass die Sicherheitskräfte ihnen ihre Ersparnisse stehlen. Vielfach werden die Betroffenen auch in andere Grenzregionen verschleppt und erneut auf polnisches Gebiet getrieben.

Während die EU weitere Sanktionen für Belarus diskutiert, nutzt Lukaschenko Geflüchtete als politisches Druckmittel gegen die Europäische Union. Die polnische Regierung reagiert mit illegalen Pushbacks und wendet massive Gewalt an, um die Menschen am Grenzübertritt zu hindern. Rechtsstaatliche Verfahren werden verweigert. Was vor wenigen Jahren noch Fantasien einer Minderheit rechter Akteur:innen war, ist Realität geworden. Dennoch lässt der öffentliche Aufschrei auf sich warten. Im Gegenteil – viele europäische Politiker:innen loben den polnischen Grenzschutz; Europa werde verteidigt. Suggeriert wird, es wäre eine Katastrophe, wenn einige tausend Menschen nach Europa einreisen würden. Geflüchtete werden zu einer Bedrohung gemacht.

Rechtswidrige Abschiebungen werden zur Realität

Nachdem Lukaschenko finanzielle Unterstützung für Belarus forderte, kündigte die EU an, 700.000 Euro für humanitäre Hilfe zu gewähren. Zusätzlich sollen 3,5 Millionen Euro für die Rückreise der gestrandeten Menschen über die Uno-Hilfsorganisationen bereitstellt werden. Dieses als „Rückreise“ beschriebene Prozedere beschreibt faktisch die von Europa finanzierte Abschiebung in die Heimatländer – rechtswidrige Abschiebungen in die Kriegs- und Krisengebiete, wie Syrien oder dem Irak werden somit zur Realität.

Eine besondere Verantwortung sehen PRO ASYL und der Flüchtlingsrat Niedersachsen für alle Schutzsuchenden, bei denen besondere Beziehungen zu Deutschland bestehen, zum Beispiel aufgrund familiärer Bezüge. Dieser Gesichtspunkt ist bisher in der Politik überhaupt nicht wahrgenommen worden.  Eine Rückkehr ins Heimatland ist für die meisten Flüchtlinge jedenfalls keine Option. Farida L.*, eine aktuell in einer Lagerhalle in Belarus gestrandete Schutzsuchende:

Wir sind vor Krieg und Leid geflohen und suchen Sicherheit, Frieden und Stabilität. Wir würden eher durch eine Kugel oder die Kälte an Ort und Stelle sterben als zurück an diesen unsicheren Ort zurückkehren.“

Der Flüchtlingsrat Niedersachsen und PRO ASYL fordern eine sofortige Aufnahme der in Belarus aufhältigen Menschen in Deutschland – auch in Niedersachsen. Da der Zugang von internationalen Hilfsorganisationen, Aktivist:innen und Journalist:innen kaum mehr möglich ist, ist eine eilige Entscheidung notwendig, um die Katastrophe abzuwenden und Menschenleben zu erhalten.

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Anhang: Dokumentation zweier Einzelfälle

Ein 71-jähriger Syrer wurde Zeuge vom Tod seiner Begleiterin

Mustafa B.* ist Ende September nach Belarus eingereist. In seinem Heimatland Syrien droht ihm Haft. Sein Sohn lebt Lüneburg. Der 71-jährige ist, wie so viele, als politischer Flüchtling mit einem Touristenvisum nach Belarus gereist. Man sagte ihm, von dort werde er leicht nach Europa weiterreisen können.

Bereits wenige Tage nach seiner Einreise fand er sich gemeinsam mit einer syrischen Frau in der polnisch-belarussischen militärischen Grenzzone mitten im Wald wieder. Die polnischen Grenzbeamten drängten die Schutzsuchenden in die Hände der belarussischen Grenzschützer, die dann wiederum die Schutzsuchenden an der Rückreise nach Belarus hinderten. Die belarussische Armee rief ihnen zu: „Entweder gehen sie nach Polen, oder Sie werden im Wald sterben.“

Die Begleiterin von Mustafa war stark entkräftet. Von Tag zu Tag baute sie weiter ab. Als ihr Begleiter die belarussischen Sicherheitskräfte um medizinische Nothilfe für die Frau bat, wurde er erniedrigt, ausgelacht und gewaltsam zurückgedrängt. Schließlich starb die Frau aufgrund der verweigerten medizinischen Notversorgung und Einsperrung im Grenzgebiet.

Im Zuge des Abtransports der verstorbenen Frau gelangte Mustafa wieder nach Minsk. Nach den schweren und traumatischen Erlebnissen sitzt er dort nun fest und hofft auf die Möglichkeit, bei seinem Sohn nach Niedersachsen aufgenommen zu werden. Seine Habseligkeiten und Dokumente verlor er im Chaos im Wald. Sein gesundheitlicher Zustand ist mittlerweile sehr kritisch.

57-jährige Alzheimer-Patientin sitzt in Lagerhalle fest

Wassila A.* musste bereits mehrfach innerhalb Syriens flüchten, bis sie die Möglichkeit bekam, nach Belarus zu gelangen. Man sagte ihr, sie könne von Minsk aus nach Deutschland weiterreisen, um zu ihren in Deutschland lebenden zwei Kindern zu kommen. Wassila leidet an Alzheimer-Demenz, einer unheilbaren Störung des Gehirns. Sie ist zunehmend vergesslich, verwirrt und orientierungslos. Aufgrund einer Nierentransplantation ist sie darüber hinaus lebenslang auf immunsupprimierende Medikamente und regelmäßige Untersuchungen angewiesen, ohne die sie nicht überleben würde.

Derzeit wird sie in einer der für gestrandete Geflüchtete errichteten Lagerhalle mit ca. zweitausend weiteren Schutzsuchenden festgehalten. Die Versorge in der Lagerhalle ist jedoch katastrophal. Nach einer Notbehandlung im Krankenhaus wurde ihr von den Sicherheitskräften ein Transport zurück zu der polnisch-belarussischen Grenzzone angeboten, wo tausende von Menschen im Wald in der Kälte ausharren in der Hoffnung, in der EU Schutz zu finden. Gleichzeitig wird gedroht, man werde die Lagerhalle in Kürze abbauen und alle abschieben. Die Menschen werden so gezielt in Panik versetzt.

Der volljährige Sohn und die volljährige Tochter von Wassila leben bereits seit mehreren Jahren in Deutschland und sind die einzigen Bezugspersonen, die sie in ihrem jetzigen Zustand begleiten und unterstützen könnten. Nun machen sie sich große Sorgen, ob ihre Mutter vor ansteckenden Erkrankungen geschützt wird und ob sie die notwendigen Medikamente erhält. Jeder weitere Tag in dieser Lagerhalle ist mit einem großen Risiko verbunden und könnte sie das Leben kosten.

Pressekontakt: Aigün Hirsch, 0511 / 98 24 60 36 | ah(at)nds-fluerat.org

[*Namen wurden geändert]

 

Weiterführende Infos:

Spiegel-Bericht vom 17.12.2021: 17 Menschen starben an der polnischen Grenze – das sind ihre Geschichten

Bericht von InfoMigrants vom 17.12.2021 zum Lager Wędrzyn (Polen): ‚We don’t want another Guantanamo in the woods of Poland‘

Flüchtlingsrat Niedersachsen: Bericht des Anti-Folter-Komitees des Europarates zu kroatischen Pushbacks, 03.12.2021.

PRO ASYL: »Sonder-Asylrecht« für osteuropäische Grenzstaaten, 02.12.2021

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3 Gedanken zu „Schutzsuchende verzweifeln und sterben in Belarus“

  1. Ich kann über Ihre Berichterstattung nur noch den Kopf schütteln! Die Menschen, die an der Grenze zu Polen stehen, sind Menschen, die mit einem Flugzeug nach Belarus mit einem Touristenvisum eingereist sind, wohl mit dem Vorhaben, die EU-Grenze ILLEGAL zu überqueren, teils um zu Verwandten nach Deutschland zu gelangen. Hierfür hätte man auch ein Visum beantragen können. Zugegeben, das ist nicht leicht und es dauert lange, nicht immer mit Erfolg, aber rechtfertigt das eine illegale Einreise? Sie haben 2 Beispiele von syrischen Menschen angeführt, die vielleicht ein Anrecht auf subsidiären Schutz haben, wenn sie aus den Teilen Syriens stammen, die vom Krieg verwüstet wurden. Es sind aber viele, viele andere Migranten an dieser Grenze, die wenig oder keine Aussicht auf ein Bleiben haben und die obendrein noch gewalttätig versuchen die Grenze zu durchbrechen, davon aber kein Wort. Eine „geschönte“ und der eigenen Weltanschaung angepassenden Berichterstattung führt letztlich nur dazu, dass man Ihnen nichts mehr glaubt und diese als „Marktschreierei“ abtut und das ist letztlich gegen die Interessen der Flüchtlinge!

    Antworten
    • Sehr geehrte Frau Weißig,
      Ihr Beitrag zeugt von einer Geschichtsvergessenheit, die uns den Kopf schütteln lässt. Während der Zeit des des deutschen Faschismus sind Zehntausende von an Leib und Leben bedrohten Menschen ins Ausland geflohen, unter Nutzung echter und falscher Pässe, mit Touristenvisa und auf illegalen Pfaden, oft auf Umwegen über Staaten, die ein Visum erteilten. Viele weitere sind in den faschistischen Tötungsfabriken der Nazis umgekommen, weil ihnen die Flucht verwehrt wurde und weil es an einer organisierten Rettungspolitik fehlte. Mit welcher Chupze stellen Sie sich jetzt hin und diskreditieren die Motive und Fluchtgründe der betroffenen Menschen?

    • Sehr geehrte Frau Weissig,
      ich bin erschüttert von der Naivität Ihres Kommentars.
      Ich gehöre keiner offiziellen Organisation an, arbeite aber seit Jahren in Deutschkursen. Was ich dort in Bezug auf den Familiennachzug höre, ist grauenhaft.
      – Ein Visum zu beantragen, ist häufig wegen der Kriegswirren im Herkunftsland faktisch unmöglich. FALLS eine Beantragung möglich war, bleiben die Betroffen oft für lange – und nicht vorher absehbare – Zeit im unklaren darüber, ob und für wann der Familiennachzug genehmigt wird. Nicht selten wird aber auch ABGELEHNT – wegen Formfehlern, fehlender Unterlagen und ähnlichem.
      Wenn Sie in einer solchen Situation ein (anscheinend) einfaches und sicheres Angebot bekämen, endlich aus dem Kriegsgebiet herauszukommen – WÜRDEN SIE NICHT MIT BEIDEN HÄNDEN ZUGREIFEN?

      Susanne Politt

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