Anonymer Krankenschein, anonyme Abrechnung und anonymisierte Chipkarte

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von Dr. Gisela Penteker

Der Flüchtlingsrat Niedersachsen fordert seit vielen Jahren die Einführung eines „anonymen Krankenscheins“. Wir begrüßen ausdrücklich die Entschließung des niedersächsischen Landtags vom 18.12.2014 (Drs. 17/2621), einen Modellversuch zur Inanspruchnahme medizinischer Leistungen durch Menschen ohne definierten Aufenthaltsstatus durchzuführen. Im Rahmen des von der Landesregierung beabsichtigten Paradigmenwechsels in der Flüchtlingspolitik ist diese Entscheidung folgerichtig. Die baldige flächendeckende Einführung des anonymen Krankenscheins, oder besser noch der anonymen Chipkarte sollte dem Modellversuch folgen.

Die Kampagne der CDU gegen den „anonymen Krankenschein“, wie sie in der Anfrage der CDU vom 3.3.2015 zum Ausdruck kommt, wirft uns zurück auf den Anfang der Diskussion vor etwa 15 Jahren. Als ob seit damals nichts geschehen wäre! Nach wie vor gilt, was das Deutsche Institut für Menschenrechte bereits 2007 den Bundes- und Landesregierungen ins Stammbuch geschrieben hat:

„Die medizinische Versorgung der gesamten Bevölkerung ist eine Verpflichtung für Staat und Gesellschaft. Der Staat hat die Verpflichtung, auch für soziale Gruppen in besonders prekären Lebenslagen barrierefreien Zugang zu einer Bedarfsgerechten medizinischen Versorgung zu gewährleisten. Diese Verpflichtung lässt sich direkt aus dem Grundgesetz mit seinem Bekenntnis zu unverletzlichen und unveräußerlichen Menschenrechten ableiten. Daraus folgt, dass der Staat auch aktive Maßnahmen ergreifen muss, damit Menschen von ihren grundlegenden Rechten wirksam Gebrauch machen können“. (Deutsches Institut für Menschenrechte, Bericht der Bundesarbeitsgruppe Gesundheit/Illegalität, 2007)

Dass es Menschen ohne definierten Aufenthaltsstatus in Deutschland gibt, wurde von politischen Entscheidungsträger:innen lange geleugnet – weil nicht sein kann, was nicht sein darf. Bis heute fehlen, trotz etlicher Forschungsarbeiten, verlässliche Zahlen. Die Schätzungen des DIM gehen von 200 000 bis 600 000 Menschen aus.
Jörg Alt veröffentlichte 1999 seine Studie „Illegal in Deutschland – Forschungsprojekt zur Lebenssituation „illegaler“ Migranten in Leipzig“. Es gab weitere Studien in München, Köln Frankfurt, die alle über die Gründe für ein Leben in der Illegalität und über die Lebensbedingungen Auskunft geben, aber keine Zahlen benennen können.
Auch über die Zusammensetzung der Gruppen, die man zu den „Menschen ohne Papiere“ zählt, gibt es unterschiedliche Meinungen. Da sind zum einen die Arbeitsmigrant:innen, die ohne Visum eingereist sich häufig in prekären Arbeitsverhältnissen finden. In privaten Haushalten, in der Landwirtschaft, im Baugewerbe scheint es unerschöpflichen Bedarf zu geben. Da sind Tourist:innen, die nach Ablauf ihres Visums nicht ausgereist sind, Student:innen, die ihr Studium abgebrochen haben oder nach Beendigung des Studiums keine Arbeit aufnehmen konnten oder durften. Da sind abgelehnte Flüchtlinge, die nicht in ihre Heimat zurückkehren können, Familienangehörige, denen der Familiennachzug nicht erlaubt wurde. Diese Aufzählung erhebt keinen Anspruch auf Vollständigkeit.

Für alle Menschen , die in unserem Land leben, gelten sowohl das Grundgesetz als auch die Menschenrechte, zu deren Einhaltung sich die Bundesregierung in verschiedenen internationalen Konventionen verpflichtet hat. Die staatlichen Aufgaben zur medizinischen Versorgung der Menschen ohne definierten Aufenthaltsstatus werden bisher überwiegend von ehrenamtlichen Bürger:innen auf Spendenbasis und von einzelnen engagierten Ärzt:innen geleistet, die noch dazu immer wieder verunsichert werden durch die unzutreffende Behauptung, dass sie sich der Beihilfe zum illegalen Aufenthalt strafbar machen.
In nahezu allen größeren Städten gibt es Büros der medizinischen Flüchtlingshilfe und der Malteser Migrantenmedizin, die von den Ordnungskräften weitgehend in Ruhe gelassen werden, weil sie versuchen, ein gesellschaftliches Problem zu kompensieren, vor dem der Staat bislang die Augen verschließt.

Zu den Fragen der Übermittlungspflicht, der ärztlichen Schweigepflicht, der vielfältigen Zugangsbarrieren zu einer verlässlichen und effektiven Gesundheitsversorgung für Menschen ohne Papiere haben alle Ärztetage der vergangenen mindestens 15 Jahre klare Beschlüsse gefasst, siehe den Bericht der Bundesarbeitsgruppe Gesundheit/Illegalität, Kap.V und die Stellungnahme der zentralen Ethikkommission bei der Bundesärztekammer von 2013.

Es gibt schon jetzt Modellversuche zum Fondsmodell in München und zum anonymen Krankenschein in Berlin. Die bereits beschlossenen gesetzlichen Änderungen zur Notfallverordnung sorgen dafür, dass Krankenhäuser für Notfallbehandlungen mit dem zuständigen Sozialamt abrechnen können, ohne die Daten der Patient:innen offen zu legen, bzw. ohne dass das Sozialamt die Daten an die Ausländerbehörde übermitteln darf. Den Kritiker:innen aus der CDU seien die Worte des Hildesheimer Bischofs Norbert Trelle, Vorsitzender der Migrationskommission der Deutschen Bischofskonferenz, ans Herz gelegt, der im Rahmen des katholischen Forums „Leben in der Illegalität“ seit 2004 für bessere Rechte von Illegalisierten streitet und im „Forum Weltkirche“ vom 1.7.2014 feststellte:

„Eine restlose Auflösung der … Spannung zwischen der Migrationskontrolle als Teil des Ordnungsrechts einerseits und den Rechten der Menschen ohne Aufenthaltsstatus andererseits wird es nicht geben. Die derzeitige einseitige Betonung des Ordnungsrechts verschärft diese Spannung allerdings, ohne dabei das Ziel der besseren Kontrolle überhaupt zu erreichen. Als Kirche nehmen wir in der Debatte um das politisch Mögliche und rechtlich Nötige vor allem aber auch die ethische und moralische Dimension in den Blick. Es geht um einen konkreten Kranken, der einen Zugang zu medizinischer Regelversorgung benötigt und auch tatsächlich haben soll. Es geht um einen konkreten Arbeitnehmer, der beispielsweise Schutz vor Ausbeutung braucht und sich daher auch selbstverständlich an unsere rechtsstaatlichen Institutionen wenden können muss. Und schließlich geht es um Kinder, die auch ganz praktisch die Möglichkeit zu einem Zugang zu Bildung erhalten müssen, um eine Zukunft zu haben.“

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