Fachbeitrag: Prof. Dr. Wolfgang- Dieter Narr
I. Maßstab Menschenrechte. Menschenrechte taugen als Basis, auf der man und von der man her menschliche Verhaltensweisen, insbesondere politische Entscheidungen, Gesetze, Institutionen, Instrumente und ihre handelnden Anwendungen am besten, sprich am menschennähesten beurteilen kann. Sie tun dies, weil sie historisch gewonnen verdichtete Kernbedürfnisse des Menschen ausdrücken. Jeder Mensch, so erzählt die Geschichte der Menschen in jedem unterdrückten und jedem offenen Wort, vermag nur selbstbewusst und handlungsfähig zu werden, wenn sie oder er in einer Gesellschaft wachsen und leben kann, die durch gestaltete und gestaltbare Menschenrechte lebendig ist. Dann ist Gewalt zwischen Menschen gering. Zum Kernbestand der Menschenrechte, die täglich wie Muskeln praktiziert werden müssen, gehören die Freiheit des Menschen, sich zu bewegen und zu äußern; die Selbstbestimmung und ihre materiellen Voraussetzungen dies zu tun; und die Integrität oder Unversehrtheit des Menschen als eines Körperseelegeistgeschöpfes. Menschen werden durch Gewalt und Zwang verletzt und zerstört. Diese und begleitende Menschenrechte sind nur, wenn Menschen einen sozialen Ort, eine Bleibe, eine Existenzgrundlage besitzen. Dort können sie gemäß einer schönen, wirklichkeitsnahen Vorstellung Ernst Blochs „die Ekstase des aufrechten Gangs“ erleben. Mit ihrer Lernhilfe wird aus dem Säugling schon ein Kind. Noch im Umfallen, noch in der Behinderung üben sie die Menschen und sehnen sich danach. Menschenrechte sind also kein Zuckerstreusel edler Werte, geeignet für den rhetorischen Sonntagsstaat. Sie können nicht mal aufgehoben, mal eingeschränkt, mal nur manchen Menschen gewährt, den anderen verweigert werden. Es sind kategorische menschengemäße, nicht aufgeherrschte Imperative. Diese werden erst zur gesellschaftlichen Wahrheit der Menschen, wenn sie praktisch bewahrheitet werden.
II. Menschenrechte und Formen: Die Menschenrechte sind also erst, wenn sie vom Himmel auf die Erde kommen. Wenn die gegebenen gesellschaftlichen Institutionen und ihre Bedingungen ihnen entsprechen. Von allen müssen sie als ihre eigenen Bedürfnisse von den Menschen gelebt werden können. Ob Menschenrechte handelnd gedeihen, wie und in welchem Ausmaß sie dies tun, befreit oder blockiert, gelockt oder unterdrückt, wird am Umkreis der Lebensbedingungen kund, die den verschiedenen Gruppen von Menschen und einzelnen Personen gegeben sind, die sie mitschaffen können. In diesem Sinne ist die Verfassung einer Gesellschaft insgesamt, politisch, ökonomisch, sozial, kulturell, mit der prinzipiellen und täglich erneuerten humanen Gretchen-Frage konfrontiert: wie hält sie es und in welchen Ausmaß tut sie dies mit den Menschenrechten und ihrer dazugehörigen prinzipiell radikaldemokratischen Form – und warum tut sie es gegebenenfalls nicht.
III. Lager menschen- und grundrechtswidrig. Es gibt eine Fülle von Lagern, die menschenrechtlich nicht von Belang sind. Sie belegen den Wort- und Gestaltungsreichtum der Menschen: Zeltlager und Kartoffellager, Kugellager, Matratzenlager, politische Lager, religiöse, wissenschaftliche und der Fülle des Lagernden mehr. Die Form des Lagers kümmert hier allein, die sich durch folgende Elemente auszeichnen: Menschen werden auf engem Raum eingegrenzt; sie werden gezwungen, sich darin auf abseh- oder unabsehbare Zeit blockiert zu bewegen; sie können den beschränkten Raum nicht selbst mit genügend Mittel gestalten; sie werden vielmehr schon räumlich, mit fremden Menschen zusammengepfercht, in ihrer Integrität dauerverletzt; das Lager dient nicht nur dazu, sie festzuhalten, also die erste Bedingung der Freiheit, Bewegungsfreiheit aufzuheben; das Lager ist nicht nur kärglich ausgestattet und versehrt die Menschen in ihm; es ist auf Kontrolle geeicht und so angelegt, dass auf seine Insassen sekündlich Druck ausgeübt wird, sich im Sinne der Lagerzwinger zu verhalten. Sozialräumliche ‘Behältnisse‘ dieser zwangsbegrenzten und zwangsdurchwachsenen Art verdienen die Bezeichnung Lager. Sie erinnert zurecht an den Ausdruck und die Einrichtung von Konzentrationslagern, wie sie zuerst um die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert im Rahmen kolonialistischer Auseinandersetzungen von europäischen Staaten bekannt geworden sind. Sie erinnert zurecht an die Konzentrationslager, wie sie unter der nationalsozialistischen und als Gulags wie mit diversen Bezeichnungen unter der stalinistisch-sowjetischen Herrschaft (und der sowjetischer Trabantenstaaten) mit tödlich mörderischen Folgen betrieben worden sind. Dort wo die oben genannten Elemente (Kriterien) auftreten bzw. zu finden sind, mit dem ZWANG als zentral ausstrahlender Herrschaftsgröße, werden die deutsch-nationalsozialistischen und die sowjetischen Lager nicht dadurch verharmlost, dass sie mit demselben Hauptwort wie gegenwärtige Einrichtungen bezeichnet werden. Die Lagererscheinungen, die mit dem Begriff (Zwangs-)Lager bezeichnet werden, sind als ein Kontinuum zu fassen, das sich tödlich verschlimmbösert. Es hebt an mit der Einrichtung von Zwangslagern, wie sie beispielsweise gegenwärtig in den meisten Bundesländern der BRD (noch) betrieben werden. Die nächste, die Lagerzustände für die zwangseingelagerten Menschen verschlimmernde Art ist bei den Lagern zu markieren, die mitsamt der BRD die EU-Staaten vor den Toren Europas initiierten, auf diverse Weise mitregeln und vor allem mitfinanzieren. Von zwei dieser Lager-Länder, aus der Ukraine und aus Libyen verfüge ich über authentische Berichte eines Doktoranden, Christopher Nsoh, an den Lagerorten selber. Und so geht es weiter. Mit dem Extrem eines Zwangslagers, mit den nazistischen Vernichtungs- und Todeslagern als Todesfabriken endet die Begriffsskala. Wer die traumatisierende Lebenswirklichkeit der dem Anscheine nach harmlosen Lager in der BRD und vor den Grenzen der EU nicht wahrhaben möchte, kann rationalisierend auf den Ausdruck Lager verzichten. Das tun heute die politischen Institutionen und ihre Vertreter, die die Lager rechtfertigend in Gang halten. Der Verzicht auf den Lagernamen und das Eingeständnis der Gleitfläche vom halboffenen, aber Zwangslager in Berlin und Brandenburg beispielsweise oder in Niedersachsen belügt diejenigen, die euphemistische Ausdrücke benutzen selber und Bürgerinnen und Bürger, die nicht hinsehen wollen (vergleiche die demnächst in Buchform erscheinende angesichts trauriger Sache ausgezeichnete Dissertation von Tobias Pieper ).
IV. Geschichte und Gegenwart der Bundesrepublik Deutschland im Spiegel ihrer Lager, kurz: als Lagergeschichte (bis 1990 mit dem Hauptakzent auf der ‘alten‘ BRD). a) In der unmittelbaren Nachkriegszeit, der Zeit der Besetzung durch die (Kriegs-)Alliierten gab es auf dem späteren Boden der BRD eine Reihe von kriegsüberhängenden (Kriegs-)Gefangenenlagern, Internierungsanstalten u.ä. b) Seit Kriegszeiten lebten/vegetierten nach 1949 noch eine Reihe von Displaced Persons in Lagern. Diese Lager können trotz ihrer zum Teil miesen Bedingungen nicht mehr als Zwangslager bezeichnet werden. ßhnliches gilt für vorübergehende Auffangs- und Durchgangslager von deutschen Bürgerinnen und Bürgern sogenannten Ost-, später Ostzonen, richtiger DDR-Flüchtlingen. Auch dort, wo die Bedingungen teilweise schlecht waren, waren sie Ausdruck vorübergehender Notsituationen. Eine solche kann anlässlich von Natur- und Umweltkatastrophen fast jederzeit eintreten. c) (Zwangs-) Lager von der Bundesregierung und Landesregierungen, anfangs auch unter diesem Namen zu Abschreckungszwecken eingerichtet, gibt es seit 1980, vor allem seit dem Asylverfahrensgesetz von 1982 in neuer Form wieder. Die Nachnationalsozialismuszeit war und ist eben nicht zuende. Die sozialliberale Koalition hat dieses Gesetz seinerzeit vorbereitet und verabschiedet; die christliberale hat es angewandt. Mit diesen neuen, bundesdeutsch exklusiv zu verantwortenden Lagern wollte man die zunehmende Zahl Asylsuchender, um ein Wort aus dem Wörterbuch des Unmenschen zu gebrauchen, komprimieren, aus der normalen BRD ausgrenzen und darüberhinaus abschrecken. Angesicht der verengten Anerkennungspraxis hatten viele Asylsuchende keine Chance. Genauer: ihnen wurde die Chance pseudolegal genommen. Seit dieser Zeit spielt das aufgeblasene Schreckwort von der „drohenden Asylantenflut“ bis hin zur Jahrtausendwende eine Handlungen, Gerichtsurteile, politische Propaganda und gewaltförmig geäußerte Vorurteile antreibende und aufstachelnde Rolle auf dem allgemeinen deutschen Vorurteilsboden: „Deutschland ist kein Einwanderungsland“ und nach Maßgabe eines blutig schmeckenden Staatsbürgerrechts aus der Kaiserzeit. d) Just die „Wiedervereinigung“ brachte einen zusätzlichen Schub, Asyl Suchenden restriktiv, ja feindlich zu begegnen. Die ansteigenden, aber nie inflationären Zahlen der Asylsuchenden – Deutschland war nie wie ein großes Holland nach einer Klimakatastrophe als „Land unter“ in Gefahr – in eins mit brennenden, zerstörenden und mordenden Bürgerinnen und Bürgern bewegten die führenden „Volkspartei“-Parteien, die dabei kräftig selbst mithalfen, Art. 16 II GG zum 1.7.1993 bis zur Unkenntlichkeit zu verändern. Zwar bliebt der 1949 verabschiedete Satz stehen: „Politisch Verfolgte genießen Asylrecht.“ Dieser Satz, einer der wenigen menschenrechtlich klar gezogenen Konsequenzen aus den Erfahrungen der NS-Zeit, wurde jedoch mit drei, schon in ihrer Sprachform grundrechtswidrigen Norm-Wänden zugemauert. Obwohl die Zahl der Asylsuchenden über die seither vergangene Zeit drastisch abnehmen gemacht worden ist – die Zahl der Anerkannten ist auf ein Minimum zusammennormiert, zusammenjudifiziert und zusammenverwaltet worden – , war der selbstgeschaffene „Lagerbedarf“ noch vor Juli 1993 und in den ersten Jahren danach groß. Als Morgengabe der Vereinigung hatten die stockreichen, zivilisatorisch arroganten westdeutschen Bundesländer ohnehin sofort dafür gesorgt, auch die „neuen Bundesländer“ umgehend in den Genuss kommen zu machen, Lager einzurichten. Also geschah es. e) Die Zahl der zwangsweise „Eingelagerten“ ist zwischenzeitlich gesunken. Das faktisch kassierte Grundrecht auf Asyl, ein feinnetziges „Migrationsmanagement“ grenzpolizeilicher, Grenzen vorverlagernder Art zusammen mit anderen EU-Staaten, insbesondere aber die Außenverlagerung der EU vor die Grenzen der EU haben die vorläufig letzte Etappe der (Zwangs-)Lager in Deutschland eingeläutet. Neben offenen dezentralen Lagern, die sich leeren, neben landesweit zentralen Lagern wie Bramsche in Niedersachsen, in denen das Zauberstück auf dem Rücken der essentieller Grund- und Menschenrechte beraubten Menschen erprobt wird, freiwilligen Zwang zu praktizieren, nimmt die „einverlagernde“ „Ausverlagerung“ zu. Sie trägt dazu bei, die ohnehin mit Sprachseife und -salbe gewaschen, geschmierten schmutzigen Hände vollends an andere stellvertretend abzugeben. Eine Hand schmutzt die andere, bleibt aber selber „sauber“.
V. Kleine grund- und menschenrechtliche Summe.
Zum ersten: Jeder Tag ist zu viel. Jeden Morgen, wenn der Tag beginnt, geschehen in der Bundesrepublik Deutschland als Lager institutionalisierte Verletzungen von zwangsweise eingelagerten Menschen. Jeden Tag wird deren Würde angetastet. Jeden Tag wird deren Selbstbestimmung verneint. Jeden Tag wird deren Integrität verletzt. Jeden Tag verweigern die politischen Repräsentanten dieses Staates und diejenigen, die sie hilfsdienstlich missbrauchen, das Recht vor allem Rechten, von Hannah Arendt wohlbegründet nachdrücklich hervorgehoben: das Recht auf einen sozialen Raum letztlich eigener Wahl jedes Menschen. Das hat gerade die Disability Convention der UN, die dem Bundestag zur Zustimmung vorliegt, noch einmal, selbstverständlich auch für diejenigen unterstrichen, die nicht behindert sind. Es ehrte Hannah Arendt mehr, man striche ICE-Etikettierung und andere Verwendungen ihres Namens, statt sie nominell zu feiern, reell aber das Gegenteil dessen tut, was gerade Hannah Arendt als Flüchtling aus dem nazistischen Deutschland weit über ihre Person hinaus millionenfach erfahren hat.
Zum zweiten: die Bundesrepublik Deutschland wird erst dann mehr als nominell, in doppelter Moral und ab und an punktuell menschenrechtsfähig, wenn der institutionalisierte Rassismus in all seinen gesetzlichen und bürokratisch institutionellen Vorgaben abgeschafft wird. Das wäre der größte Beitrag der selbstgefälligen Toleranzbündischen und Demokraten, der angeblichen Mehrheit in diesem Lande, um aktuell rassistische ßußerungen mangelhaft sozial eingebetteter und anerkannter Jugendlicher und stehen gebliebener Erwachsener auf ein Minimum zu reduzieren. Der repressiven, restriktiven und präventiv repressiven Maßnahmen und Gesetze bedarf es nicht. Es bedarf eines politischen Handelns, das endlich aufhört mit ewig neuen Variationen des “ permanenten Appell an den inneren Schweinehund des Menschen“ (Kurt Schumacher 1930). Dann erst würde ein freies Land zukunftsfähig möglich gemacht.
Zum dritten: wir alle, bundesdeutsche Staatsbürgerinnen und Staatsbürger vorweg sind mit allen gewaltfreien Mitteln gehalten, die menschenrechtlich illegitime Legalität zu ändern, zu blockieren, zu unterwandern, nach allen Regeln unserer Kunst auszutricksen. Damit die illegale Legalität verschwinde und die als „illegal“ gestempelten Menschen als das leben können, was ihnen niemand verweigern kann – es sei denn illegal und zwangsweise: Als Menschen wie du und ich.
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