Die gewaltsamen Übergriffe eines Bundespolizisten auf zwei Flüchtlinge in Hannover sind kein Einzelfall. Das behauptet ein Beamter der Polizeidirektion der Landeshauptstadt im Gespräch mit der HAZ vom 6. Juni 2015. Vier seiner Kollegen und er hätten über Jahre hinweg Ausländer misshandelt. Schwarzafrikaner sollen geschlagen und mit Reizgas attackiert worden sein. Die Täter seien nicht zur Rechenschaft gezogen worden, weil sie sich gegenseitig geschützt hätten. Dies sei ein „System“ gewesen. Beamte sollen Festnahmeprotokolle gefälscht haben.
Nachfolgend dokumentieren wir den Bericht aus der HAZ vom 06.06.2015 sowie Auszüge aus der HAZ vom 8.6.2015:
Die jüngste Berichterstattung über den Fall des Bundespolizisten am hannoverschen Hauptbahnhof, der im Verdacht steht, zwei Flüchtlinge misshandelt zu haben, hat ihn dazu veranlasst, sich in der Öffentlichkeit zu äußern. „Im Fall der Bundespolizei heißt es jetzt, das sei ein bedauerlicher Einzelfall“, sagt S. „Das stimmt aber nicht. Das sind keine Einzelfälle, weder die rassistischen Sprüche noch die Übergriffe.“ Nach Ansicht des Beamten gibt es eine Art System, durch das Verfehlungen von Polizisten im Dienst verdeckt werden können. S. spricht dabei aus Erfahrung. Er gibt an, selbst über Jahre hinweg Teil dieses Systems gewesen zu sein. „Es hat bis heute Bestand, daran hat sich nichts geändert“, sagt er.
Davon sind auch Organisationen überzeugt, die sich mit dem Thema Polizeigewalt befassen. „Die Umstände in Behörden begünstigen, dass Straftaten nicht ans Licht kommen“, sagt Maria Scharlau von Amnesty International. Die Menschenrechtsorganisation hat im Jahr 2010 einen Bericht mit dem Titel „Mangelnde Aufklärung von mutmaßlichen Misshandlungen durch die Polizei in Deutschland“ veröffentlicht. In vielen Dienststellen seien bis heute immer die gleichen Teams eingesetzt. „Es entstehen sogenannte Gefahrengemeinschaften, in denen man sich auch mal etwas durchgehen lässt“, sagt Scharlau. Auch Thomas Wüppesahl von der Bundesarbeitsgemeinschaft kritischer Polizisten und früher selbst Polizist, spricht von einem falschen Korpsgeist. „Es ist nicht die Ausnahme, dass Beamte im Dienst Straftaten begehen“, sagt er. „Es ist die Ausnahme, wenn es bekannt wird.“
Der hannoversche Polizist Thomas S. hat bereits früh in seiner Laufbahn mit dem System Bekanntschaft gemacht. Nach der Ausbildung war er als Bereitschaftspolizist bei einem Fußballspiel in Celle eingesetzt, bei dem es zu Ausschreitungen kam. S. wurde Zeuge, wie während des Einsatzes ein völlig unbeteiligter 16-Jähriger von drei Kollegen zusammengeschlagen wurde. Der Jugendliche erstattete Strafanzeige. Als S. seine Zeugenaussage machen sollte und dabei die Namen der betroffenen Beamten nennen wollte, legte sein Vorgesetzter ihm einfach die richtigen Worte in den Mund. Obwohl S. mehrfach angab, er wisse die Namen der Verantwortlichen, landete im Protokoll, dass er die Polizisten wegen ihrer gleichen Schutzkleidung nicht erkennen konnte. Der Fall blieb ungesühnt. „Da wurde mir klar, wie das System funktioniert“, sagt S.
Sven-Christian Kindler, der für die Grünen im Bundestag sitzt, spricht sogar von einem Folterskandal. „Wir brauchen eine grundlegende Debatte über die Rolle der Polizei im Rechtsstaat. Jetzt darf man nicht einfach zur Tagesordnung übergehen“, sagt er. Kindler fordert tief greifende Strukturreformen bei der Polizei in Hannover.
Vor diesem Hintergrund fordert auch Meta Janssen-Kucz, innenpolitische Sprecherin der Grünen im Landtag, ein Umdenken bei der Polizei. „Die weiteren Vorgänge in der Dienststelle in Hannover sind zweifellos erschreckend und tragen dazu bei, das Vertrauen in die Polizei empfindlich zu erschüttern“, sagt sie. Die strukturellen Probleme innerhalb der Polizei müssten von allen Beteiligten in Bund und Ländern angepackt werden.
Die CDU-Fraktion will prüfen, ob der jetzt bekannt gewordene neue Fall im Innenausschuss des Landtags behandelt werden muss. „Wir nehmen den Fall sehr ernst und werden den gravierenden Anschuldigungen auf politischer Ebene nachgehen“, sagt der CDU-Abgeordnete Thomas Adasch, der früher einmal selbst im Polizeidienst gewesen ist. Die Menschenrechtsorganisation Amnesty International fordert seit Langem tief greifende Reformen bei den Landespolizeibehörden. Das gegenwärtige System, in dem die Polizei unter Aufsicht der Staatsanwaltschaft die Ermittlungen führt, könne keine unabhängigen und umfassenden Untersuchungen aller mutmaßlichen Menschenrechtsverletzungen durch die Polizei gewährleisten, heißt es in einem Abschlussbericht zu einer umfassenden Untersuchung zu Polizeigewalt aus dem Jahr 2010. Die Menschenrechtsexperten fordern darin auch das Einrichten einer unabhängigen Beschwerdestelle für Straftaten im Amt. In Niedersachsen gibt es nur eine beim Innenministerium eingerichtete Beschwerdestelle für Polizeigewalt. Zudem plädiert Amnesty für Video- und Audioüberwachung „in allen Bereichen von Polizeiwachen, in denen sich Inhaftierte aufhalten“.
siehe auch: Haz-Berichte online
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