Mahnmal für die im Faschismus ermordeten Sinti und Roma in Berlin eingeweiht – Abschiebungen gehen weiter

Nach 20 Jahren Streit erinnert seit Mittwoch ein Mahnmal mitten in Berlin an die in der Nazi-Zeit ermordeten Sinti und Roma. Mit Bundespräsident Joachim Gauck und zahlreichen Roma-Vertretern hat Bundeskanzlerin Angela Merkel bei der Einweihung des Denkmals in einer Schweigeminute der Opfer gedacht. Der israelische Künstler Dani Karavan hat eine schwarze Wasserschale geschaffen, aus der täglich als Zeichen des Lebens eine Rose emporsteigt.
Geschichten von Vertreibung, Entwurzelung, Deportation und ermordeten Angehörigen durch die Nationalsozialisten und ihre Kollaborateure gibt es in den meisten Roma-Familien. Die Zahl der in Europa durch die Nationalsozialisten getöteten Roma wird auf bis zu eine halbe Million geschätzt.
Dennoch brachte es der deutsche Innenminister Hans-Peter Friedrich (CSU) fertig, parallel zur Einweihungseröffnung über einen angeblichen „Asylmissbrauch“ durch Flüchtlinge vom Balkan herzuziehen und Schnellverfahren sowie abgesenkte Barleistungen für sie  zu fordern. Der Vorsitzende des Zentralrates der Sinti und Roma, Romani Rose, übte scharfe Kritik: „Das Thema Asylmissbrauch an einer Minderheit wie den Sinti und Roma abzuhandeln, halte ich für mehr als diskriminierend. Da betreibt man ein Stück weit Hetze“, sagte Rose der „Mittelbayerischen Zeitung“. Rose betonte, er hoffe, dass derartige Äußerungen „nicht bereits auf den Bundestagswahlkampf im nächsten Jahr“ gerichtet seien.
Die Verlogenheiten der öffentlichen Debatte um historische Verantwortung vor dem Hintergrund der aktuellen Politik gegenüber den Roma bestimmt auch viele Zeitungskommentare. Marina Kormbaki fragt in der heutigen Ausgabe der Hannoverschen Allgemeinen Zeitung: „Bekommen die Roma erneut die Rolle des Sündenbocks?“ Weiter schreibt sie:

„Es gibt Tage, da trifft Geschichte auf Gegenwart – und prallt hart an ihr ab.
Am gestrigen Mittwoch hat Bundeskanzlerin Angela Merkel in Berlin das Mahnmal für die halbe Million von Nationalsozialisten verfolgten und ermordeten Sinti und Roma eingeweiht. Merkel sprach im Beisein von Bundespräsident Joachim Gauck von einer „Mahnung für die Gegenwart“. Das Denkmal erinnere an eine Opfergruppe, die öffentlich „viel zu lange viel zu wenig wahrgenommen wurde“.  Am heutigen Donnerstag sucht Bundesinnenminister Hans-Peter Friedrich bei einem Ministertreffen in Luxemburg nach Wegen, wie Deutschland die Nachkommen der soeben Geehrten möglichst fernhalten kann: Deutsche Innenexperten wollen so schnell wie möglich die Visumsfreiheit für Serbien und Mazedonien wieder aufheben – und damit einen vor Kurzem erreichten europäischen Integrationsfortschritt wieder zurückdrehen.
Wann traten Widersprüche und Heuchelei im Umgang mit einer diskriminierten Minderheit je so unverhohlen zutage?“

Norbert Mappus-Niedeck schreibt in der Badischen Zeitung von heute unter der Überschrift „In ganz Europa wird geheuchelt“:

„Könnte man heute eine Rede zum Völkermord an den Juden halten und morgen nach Moskau fliegen, um den russischen Präsidenten davon zu überzeugen, dass er keine russischen Juden nach Deutschland reisen lässt? Nein, das könnte man zum Glück nicht. Man kann aber heute ein Denkmal für die ermordeten Sinti und Roma einweihen und morgen zu einem EU-Gipfel reisen und dort – wegen der vielen von dort kommenden Roma – den Beitrittskandidaten Serbien und Mazedonien mit der Wiedereinführung der Visumpflicht drohen.“

Heribert Prantl schreibt in der Süddeutschen Zeitung vom 24.10.2012 unter der Überschrift: „Denkmal für Sinti und Roma – Damals ermordet, heute verfolgt“:

„Die toten Sinti und Roma haben jetzt ein Denkmal; heute wird es in Berlin eingeweiht. Die lebenden Sinti und Roma haben fast nichts; sie haben keine Arbeit, keine Wohnung, keinen Schutz und keine Hilfe. In Ungarn, Rumänien und Bulgarien, Mazedonien und Serbien werden sie schikaniert und verfolgt, in Deutschland und Frankreich kaserniert und abgeschoben – dorthin, wo sie wieder schikaniert und verfolgt werden. Die Bundeskanzlerin gedenkt heute vor dem neuen Denkmal der bis zu fünfhunderttausend Sinti und Roma, die von den Nazis ermordet worden sind. Der Bundesinnenminister überlegt derweil, wie man sich in Deutschland die Enkel und Urenkel der Ermordeten am besten vom Leib hält.

Norbert Mappes-Niedeck ist u.a. Autor des jüngst erschienenen Buches „Arme Roma, böse Zigeuner“, in dem es um Roma-Klischees und Stereotypien geht, die das eigentliche Problem der Armut verdecken: Scheinbare kulturelle Verhaltensweisen sind, so Mappes-Niedeck, tatsächlich Folgen einer aufgezwungenen Ökonomie der Armut. Ein lesenswertes Interview von Dirk Auer mit dem Autor findet sich Deutschlandfunk vom 22.10.2012. In der heutigen Ausgabe der Badischen Zeitung  bringt Mappus-Niedeck das Problem wie folgt auf den Punkt:

„Sind Roma Opfer zweiter Klasse? Wollen wir aus dem Völkermord an ihnen keine Lehren ziehen? Wir haben aus der Verfolgung, Vertreibung und Ermordung der deutschen Sinti und der osteuropäischen Roma tatsächlich nicht die richtigen Lehren gezogen. Die Sinti und Roma wurden unter den Nazis aus zwei Gründen verfolgt: aus rassischen und aus sogenannten ordnungspolitischen Gründen. Zum einen waren sie Opfer der Vorstellungen von „Rassereinheit“ und genetisch höher- und minderwertigen Völkern. Zum anderen hatten die Nazis die strengen, oft zwanghaften Ordnungsvorstellungen der Kaiserzeit geerbt und radikalisiert. Die „Landfahrerverordnungen“, Polizeischikanen und Ausweisungsbeschlüsse des 19. Jahrhunderts richteten sich nicht speziell gegen „Fremdvölkische“, sondern allgemein gegen Arme. Arme ziehen mangels Bleibe umher, betteln, bauen sich Hütten ohne Baugenehmigung; das alles durfte – und darf – nicht sein.

Die rassische Diskriminierung ist heute verpönt, der Affekt gegen Arme aber in voller Blüte. Wenn 60 Prozent der Deutschen keine Roma als Nachbarn haben wollen, so hoffentlich nicht, weil sie rassistisch wären. Man will aber nicht mit einer Familie auf der Etage wohnen, die von den Verhältnissen zu zehnt in eine Dreizimmerwohnung gezwungen ist und sich den Lebensunterhalt mit Müllsammeln verdienen muss.

Für das soziale Problem und die Schwierigkeiten eines solchen Zusammenlebens hat niemand eine Lösung. An dieser Stelle kommt der verpönte Rassismus durch die Hintertür wieder herein. Mit dem Phänomen Armut wollen wir uns nicht auseinandersetzen. Die einen finden es bequem, die Armut mit den „kulturellen“ Eigenschaften der Roma zu erklären. Wenn den Roma von wahnwitzigen Forschern mindere Intelligenz zugesprochen wird, darf man auch wieder von Rassismus sprechen. Die anderen prangern die mangelnde Toleranz der Mehrheit an. Wenn aber die Armut das größte Problem der südosteuropäischen Roma ist, die in unsere Städte kommen, dann ist nicht Toleranz gefragt. Armut gehört bekämpft, nicht toleriert.

Man bekämpft sie auch nicht, indem man die Armen bekämpft, wie es deutsche Regierungen bis in die 1960er Jahre getan haben. Das „ordnungswidrige“ Verhalten der Opfer ist bei näherem Hinsehen nicht Ausfluss einer besonderen Kultur, sondern Überlebensstrategie; niemand bettelt aus Berufung. Damit Menschen nicht zur Entwicklung solcher Strategien gezwungen sind, muss man ihre Grundbedürfnisse erfüllen. Wenn es aber um Roma geht, wird in ganz Europa tüchtig geheuchelt. Die westeuropäischen Innenminister tun so, als wollten sie den Betroffenen helfen und mahnen die Osteuropäer, sie sollten ihr „Roma-Problem“ lösen und die Menschen nicht länger diskriminieren. Dabei übersehen sie geflissentlich, dass hier nicht ein ominöses „Roma-Problem“ zu lösen ist, sondern eine Herkulesaufgabe wartet: Seit 1990 sind ganze Landstriche verödet, Millionen Menschen, so gut wie alle Roma, aber auch viele andere, in eine sich verstetigende Armut gerutscht. Als Problem wird diese Armut nur empfunden, wenn sie sich zeigt. Wer aber von der Armut nicht sprechen will, soll zum Völkermord, zum Rassismus der Nazis und einer Scham der Nachgeborenen lieber schweigen.“

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