Vor 40 Jahren entstand der Flüchtlingsrat Niedersachsen als Wochenendversammlung örtlicher Flüchtlingsinitiativen, die sich zusammenfanden, um Geflüchtete zu unterstützen und der öffentlichen Diffamierung von Schutzsuchenden etwas entgegenzusetzen. Niemand hätte sich damals träumen lassen, dass sich aus diesem zivilgesellschaftlichen Engagement eines Tages eine unabhängige, landesweit tätige Menschenrechtsorganisation mit 26 Mitarbeiter*innen entwickeln würde (siehe hier ein kurzer Rückblick).
Unsere Mitgliederversammlung vom 18. August 2024 mit anschließender Feier auf dem „Fest der Vielfalt“ richtete sich vor allem an Mitglieder und Unterstützer*innen des Flüchtlingsrats. Auf unserem Empfang am 14. September 2024 erfuhr unser 40. Geburtstag auch eine politische Würdigung und Ehrung. Angesichts der öffentlich aufgeheizten Stimmung und grundsätzlicher Debatten um das Asylrecht war es uns ein Anliegen, Politik und Öffentlichkeit zu vermitteln, dass wir mit einer Politik nicht einverstanden sind, die Geflüchtete zum Sündenbock für politische Fehlentwicklungen macht und den Parolen der AFD hinterherläuft, statt ihnen Paroli zu bieten. Nachfolgend ein Bericht:
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Den Auftakt macht die Vorsitzende des Flüchtlingsrats, Claire Deery: In ihrer Rede stellt sie klar, dass die aktuell verfolgte Politik gegenüber Geflüchteten aus Sicht des Flüchtlingsrats alles andere als zufriedenstellend ist: „Es ist eine Zeit, in der man das Gefühl hat, jeden Morgen die Nachrichten einzuschalten und sich zu fragen: ‚Was gibt’s heute Neues? Ein Asteroid? Oder vielleicht fliegen jetzt Kühe?'“ Aber leider seien es nicht die Kühe, sondern die politischen Entscheidungen, die uns zum Kopfschütteln bringen. „Während wir in den Nachrichten hören, dass „Zurückweisungen“ die Lösung sein sollen, sehen wir täglich in der Praxis das Gegenteil: Dublin-Staaten nehmen keine Asylbewerber zurück, Menschenrechtsanwält*innen werden angefeindet, und das Recht auf Asyl wird immer weiter untergraben. Und während all das passiert, sitzen die Menschen in ihren Unterkünften fest, ohne Perspektive, ohne Hoffnung – abwartend wie auf den nächsten Schlag.“ Der Rechtsstaat und die Demokratie werden durch eine Politik gefährdet, die immer mehr rechtsextreme Positionen übernimmt und sie legitimiert.
Scharfe Kritik an der Bundespolitik leistet auch der Sprecher von PRO Asyl, Tareq Alaows: „Wir sehen eine hysterische Debatte, die auf einem Überbietungswettbewerb der Entrechtung geflüchteter Menschen basiert.“ Die CDU laufe der AFD hinterher, aber auch die anderen Parteien integrierten sich zunehmend ins „Team Friedrich Merz“. Das Land müsse mehr für die Integration der hier lebenden Schutzsuchenden tun und härter gegen den gewaltbereiten Islamismus vorgehen. Die Zusammenarbeit mit dem Regime in Afghanistan bei Abschiebungen fördere Terrorismus und Islamismus, anstatt sie zu bekämpfen. „Das ist eine Bankrotterklärung für den Rechtsstaat.“ Auch die nun verfügten Grenzkontrollen an allen Binnengrenzen und der jüngste Vorschlag der Bundesinnenministerin, an diesen Grenzen Auffanglager für Dublin-Schnellverfahren zu errichten, seien geprägt von dem Gedanken, möglichst viele Schutzsuchende möglichst schnell abzuschieben.
Dündar Kelloglu, der die Geschichte des Flüchtlingsrats rekapituliert, erinnert an die Auseinandersetzungen um die „Gutscheinpraxis“ in Niedersachsen bis 2014: Er habe ein Deja-vu und fühle sich an diese Debatten zurückversetzt, wenn die Landesregierung jetzt unter einer rot-grünen Landesregierung die Einführung einer „Bezahlkarte“ plane. Auch die Ausweitung von Aufenthaltszeiten in Notunterkünften oder der Umgang mit Entscheidungen der Härtefallkommission markierten Streitfragen, bei denen der Flüchtlingsrat mit der Landesregierung über Kreuz liege. Dündar Kelloglu drückt seine Hoffnung aus, dass die Politik des Landes Niedersachsen zu einer pragmatischen und lösungsorientierten Linie zurückfinde. Gleichzeitig dankt er dem Land Niedersachsen für die in den vergangenen Jahren geleistete Unterstützung und Förderung der Arbeit des Flüchtlingsrats.
Ein Grußwort von Sozialminister Andreas Philippi bildet den Auftakt einer 15-minütigen Video-Sequenz über 40 Jahre Flüchtlingsrat Niedersachsen. Philippi, der zum Veranstaltungsbeginn nicht dabei sein kann, aber gegen Nachmittag noch am Empfang teilnimmt, hebt die Rolle und Bedeutung des Flüchtlingsrats als kritische Instanz und Partner der Landesregierung hervor und lobt das Engagement des Flüchtlingsrats insbesondere in den Bereichen Arbeitsmarktintegration und Unterstützung von unbegleiteten minderjährigen Geflüchteten.
Ministerpräsident Stephan Weil beschreibt in seinem Grußwort treffend das „Spannungsverhältnis“, in dem der Flüchtlingsrat und das Land Niedersachsen sich begegnen: Der Flüchtlingsrat sei ein unbequemer, aber wichtiger Partner der Landesregierung. Einig sei sich die Landesregierung mit dem Flüchtlingsrat in der klaren Haltung, dass die Grundrechte sowie das Völkerrecht den unhinterfragbaren Rahmen für die Politik setzt: Menschen trotz gegenteiliger Rechtslage in Nachbarstaaten zurückzuweisen, sei nicht akzeptabel, auch nicht versuchsweise. „Das ist nicht vorgesehen im Rechtsstaat“, so der Ministerpräsident. Unterschiedliche Positionen vertreten Landesregierung und Flüchtlingsrat dagegen beim Thema Abschiebungen: Während der Flüchtlingsrat etwa Kirchenasyl für abgelehnte Asylbewerber unterstütze, müsse das Land bei ihnen die Rückführungen durchsetzen. „Die Landesregierung wird sehr strikt bei ihrer Position bleiben und freut sich über jeden Verbündeten, der den weltoffenen Charakter unseres Landes Niedersachsen immer und immer wieder verteidigt“, führt er aus. „Abschottung ist das schlechteste, was man in unserem Land insgesamt raten kann. Da sind wir absolut überzeugt.“
Eine ähnliche Position bezieht auch der Migrationsbeauftragte der Landesregierung, Deniz Kurku: Die Positionierung des Flüchtlingsrats in politischen Auseinandersetzungen werde von ihm nicht immer geteilt und sei zuweilen auch ärgerlich. Aber es sei gut, dass der Flüchtlingsrat Niedersachsen seine Stimme erhebe und sich konsequent für Menschenrechte einsetze. Deniz Kurku würdigt das Wirken des Flüchtlingsrats als vielfältig und in mehrere Hinsichten unentbehrlich: Das 26-köpfige interdisziplinäre Team leiste wertvolle und dringend benötigte Unterstützung für Schutzsuchende. Projekte des Rats nähmen dabei immer auch besondere Bedarfe, wie z.B. von Frauen, jungen Menschen oder Menschen mit Behinderungen, in den Blick. Der Flüchtlingsrat sei ein wichtiger gesellschaftlicher und politischer Akteur, der strukturelle Veränderungen für Schutz und mehr Teilhabe vorantreibe.
Die stellvertretende Vorsitzende der CDU-Fraktion in Niedersachsen, Veronika Bode, verweist auf die großen Herausforderungen, vor denen die Gesellschaft angesichts einer „Überlastung der Systeme“ derzeit stehe. Ihre Partei halte Zurückweisungen an den Binnengrenzen daher für unverzichtbar. Ihr sei klar, dass diese Position beim Flüchtlingsrat Niedersachsen nicht geteilt wird. Bei allen Unterschieden in den politischen Positionen halte die CDU den Flüchtlingsrat aber für eine wichtige politische Einrichtung und überbringe daher, auch im Namen des verhinderten Fraktionsvorsitzenden Sebastian Lechner, die Glückwünsche der CDU. Als ehemalige Verantwortliche für den Bereich der Arbeitsmarktintegration von Geflüchteten beim Jobcenter Helmstedt wisse sie um die Probleme und schätze die Projektarbeit des Flüchtlingsrats in diesem Bereich. Lobende Worte findet sie auch für das Engagement der Kirchenasyl gewährenden Gemeinden.
Djenabou Diallo-Hartmann, Sprecherin für Migration, Geflüchtete und Antirassismus und stellv. Fraktionsvorsitzende der Grünen, überreicht dem Vorstand als Geburtstagsgeschenk der Fraktion nicht nur eine große Tasche mit Energie-Riegeln, Keksen, Tee, Kaffee und sonstigen Leckereien, sondern auch das gerahmte Titelcover des „Spiegel“ aus dem Jahr 1984, dem Gründungsjahr des Flüchtlingsrats, mit dem Titel: „Flucht in die Sackgasse. Die Eingeschlossenen von Prag“. Flucht, so ihr Kommentar dazu, sei eine existenzielle Erfahrung, die viele Menschen in Deutschland geprägt hat. Gefordert seien Empathie und Solidarität statt Diskriminierung und Ausgrenzung. Djenabou Diallo-Hartmann übt Kritik an der Politik der Ampel („Grenzkontrollen widersprechen der europäischen Idee“), verspricht, sich für die Verteidigung des Asylrechts einzusetzen, und wünscht dem Flüchtlingsrat viel Kraft und Erfolg für die kommenden 40 Jahre.
Letzter Redner vor der Pause istr Dr. Anwar Hadeed, Geschäftsführer des AMFN e.V. und langjähriger Wegbereiter im Kampf für eine gleichberechtigte Teilhabe von Geflüchteten und Migrant*innen auf Augenhöhe. Hadeed skizziert die Entwicklung des Flüchtlingsrats und des AMFN e.V. als zweier befreundeter Verbände, die im Rahmen eines widersprüchlichen und zuweilen auch konflikthaften Miteinanders in den vergangenen Jahrzehnten viel erreicht und ihre Arbeit professionalisiert haben. Im Namen des AMFN e.V. gratuliert er dem Flüchtlingsrat zu seinem 40. Geburtstag und gibt seiner Hoffnung Ausdruck, dass es gemeinsam gelingen möge, den aktuell stattfindenden Rollback aufzuhalten und eine gleichberechtigte Teilhabe in Politik und Gesellschaft zu verwirklichen.
Nach der Pause eröffnet die Claire Deery als Vorsitzende des Flüchtlingsrats die Feierstunde zur Verleihung des Dr. Matthias-Lange-Fluchthilfepreises mit einem kurzen Rückblick auf den Namensgeber des Preises. Sie erinnert an der Politik nach dem Solinger Brandanschlag 1993: Der Brandanschlag, ein schreckliches Beispiel für rassistisch motivierte Gewalt, habe gezeigt, wie gefährlich es ist, wenn gesellschaftliche Gruppen gegeneinander ausgespielt werden. Langes Aufforderung, Solidarität über identitätspolitische Grenzen hinaus zu leben, sei eine direkte Reaktion auf die damals zunehmende Fremdenfeindlichkeit und den restriktiveren Kurs der Asylpolitik. „Langes Gedanken zur ‚Politik der Zivilisierung’… fordern die Politik heute dazu auf, über kurzfristige Maßnahmen hinauszugehen und Lösungen zu entwickeln, die langfristige Integration und Solidarität fördern.“
Konkreter Ausdruck gelebter Solidarität mit Geflüchteten ist die Arbeit des Oekumenischen Netzwerks Asyl in der Kirche Niedersachsen und Bremen, dem diesjährigen Träger des Fluchthilfepreises. In ihrer Laudatio nimmt Dietlind Jochims von der Bundesarbeitsgemeinschaft Asyl in der Kirche Bezug auf die Gründung des Netzwerks im Jahr 1995 und aktuelle Auseinandersetzungen um das Kirchenasyl.Das europäische Asylsystem gleiche einer Lotterie. Es sei ein Armutszeugnis, dass heutzutage Geflüchtete durch Kirchenasyl vor systematischer Gewalt und drohender Verelendung in Europa geschützt werden müssten. An Einzelfällen zeige sich immer wieder ein systemisches Versagen. Mit dem kleinen Instrument Kirchenasyl könnten die Kirchen kein regulativer Normalfall sein oder werden. „Aber wir sehen die Not.“
Das Kirchenasyl-Netzwerk trete ein für den Schutz von Einzelnen vor der Verletzung ihrer Würde. Im Kirchenasyl gehe es um viel größere Fragen: „Es geht darum, was für eine Gesellschaft wir sein wollen: Eine, die geprägt ist von Achtsamkeit füreinander, eine, die sich gerade macht, wenn Andere in ihrer Würde und ihren Rechten verletzt werden, eine, die weiß, dass auch im besten Rechtsstaat Fehler gemacht werden. Wir verlieren nichts, wenn wir unsere Humanität bewahren. Im Gegenteil. Wir verlieren aber viel, wenn wir Räume der Menschlichkeit, Schutzräume, opfern, um dem scheinbar Populären nachzubellen. Ich glaube, ich hoffe, das verstehen immer noch mehr Menschen in Deutschland, als es im Moment manchmal den Anschein hat.“
In ihrer Dankesrede berichtet Hildegard Grosse, Mitbegründerin und langjährige Verantwortliche für das niedersächsische Netzwerk Kirchenasyl, über die Einzelschicksale von Schutzsuchenden, die in ihrer Kirchengemeinde Asyl erhielten und heute erfolgreich ihr Leben in Deutschland meistern. Sven Quittkat, Leiter der Theologischen Unternehmensentwicklung bei der Dachstiftung Diakonie und aktuell Sprecher des Oekumenischen Netzwerks Asyl in der Kirche Niedersachsen und Bremen, beschreibt die Not, in der sich viele Geflüchtete befinden, die in manchen europäischen Ländern mit staatlicher Gewalt konfrontiert sind und dort weder ein faires Verfahren noch ein menschenwürdiges Leben erwarten können. Das Angebot an Kirchengemeinden, die zur Gewährung von Kirchenasyl bereit seien, decke den Bedarf bei weitem nicht ab. Auch seine Stephansgemeinde müsse eine strikte Auswahl treffen und viele Schutzsuchende ablehnen. Aber es sei wichtig, den Menschen in die Augen zu schauen, sich von ihrem Schicksal anrühren zu lassen und nicht abzuwenden.
Den Schlusspunkt setzt Anna Sonyk aus Hannover, die uns mit ihren mitreißenden Liedern aus der Ukraine und dem Rest der Welt durch den gesamten Tag begleitet hat und uns am Ende mitsingen lässt. Wir werden weitermachen.
Anlagen:
- Rede von Claire Deery: 40 Jahre Flüchtlingsrat Niedersachsen
- Gedenken_an_Matthias_Lange
- Das oekumenische Netzwerk Asyl in der Kirche Niedersachsen und Bremen
- Laudatio auf den Preisträger von Dietlind Jochims
- dpa-Bericht zum Empfang, hier im „Stern“ vom 14.09.2024
- Bericht des NDR vom 14.09.2024 zum Empfang
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