Ein Jahr nach der Machtergreifung der Taliban – Flüchtlingsrat fordert Aufnahmeprogramme für Afghan:innen

Anlässlich der Machtergreifung der Taliban, heute vor einem Jahr am 15. August 2021, fordert der Flüchtlingsrat von der Landesregierung, ein Aufnahmeprogramm für Afghan:innen mit Angehörigen in Niedersachsen zu verabschieden. Von der Bundesregierung fordert die Organisation, ihren Zusagen aus dem Koalitionsvertrag endlich Taten folgen zu lassen und Ortskräfte sowie besonders gefährdete Personen aufzunehmen.

Heute vor einem Jahr, am 15. August 2021, ergriffen die Taliban die Macht über Kabul und damit über ganz Afghanistan. Seitdem spitzt sich die humanitäre und menschenrechtliche Lage im Land immer weiter zu. Weite Teile der Bevölkerung sind von akuter Hungersnot betroffen, die Arbeitslosigkeit wächst, die Preise für Lebensmittel haben sich vervielfacht und die Gesundheitsversorgung ist völlig unzureichend. Hinzu kommen Choleraausbrüche in Zentral- und Südafghanistan.

Dennoch sehen die Pläne der Ampelkoalition ausschließlich die Aufnahme – eines begrenzten Kreises und einer geringen Anzahl – von Ortskräften bzw. gefährdeten Personen vor. Eine Aufnahme von Afghan:innen mit Angehörigen in Deutschland hingegen ist nicht beabsichtigt.

Der Flüchtlingsrat Niedersachsen fordert deshalb von der Landesregierung, ein Aufnahmeprogramm für Afghan:innen mit Angehörigen in Niedersachsen zu verabschieden. Ein solches Aufnahmeprogramm gab es in Niedersachsen in der Vergangenheit bereits für Angehörige von Menschen aus Syrien.

Annika Hesselmann, Referentin beim Flüchtlingsrat Niedersachsen

„Die Landesregierung darf sich nicht aus der Affäre ziehen, indem sie sich hinter den unzureichenden Plänen der Ampelkoalition versteckt. Sie muss ein Aufnahmeprogramm verabschieden und Afghan:innen, die Angehörige in Niedersachsen haben, ein Leben in Sicherheit und Würde ermöglichen. Uns kontaktieren regelmäßig Menschen, die sofort bereit wären, ihre Angehörigen bei sich aufzunehmen, um sie aus ihrem Elend zu befreien.“

Die Angst der Bevölkerung vor den Taliban wächst.  
Doch nicht nur die humanitäre, sondern auch die menschenrechtliche Situation Lage in Afghanistan ist fatal. Den Flüchtlingsrat erreichen weiterhin täglich Hilferufe von Afghan:innen, die mit deutschen Institutionen zusammengearbeitet haben. Andere haben sich für Menschenrechte und Demokratie eingesetzt. Auch Personen, die für die ehemalige Regierung bzw. den Staat tätig waren, sind darunter. Diese Menschen müssen sich nun unter widrigsten Umständen vor den Taliban verstecken und sind darauf angewiesen, von Dritten mit dem Lebensnotwendigen versorgt zu werden – das bekanntlich in ganz Afghanistan knapp ist.

Maryam Mohammadi, Referentin des Flüchtlingsrat Niedersachsen

„Die Bundesregierung muss jetzt Handeln, damit ihre Zusagen aus dem Koalitionsvertrag nicht nur ein Lippenbekenntnis bleiben. Diejenigen, die sich jahrelang für die Entwicklung Afghanistans eingesetzt oder internationale Organisationen bei der Erreichung ihrer Ziele unterstützt haben und deshalb nun von der Taliban verfolgt werden, dürfen nicht im Stich gelassen werden. Ganz gleich, ob es sich bei Ihnen formell um Ortskräfte bzw. besonders gefährdete Personen handelt oder nicht.“

Die von den Taliban verkündete Generalamnestie hat sich längst als Lüge erwiesen. So hatten die Taliban der Weltöffentlichkeit vorgeheuchelt, keine Rache an Menschen nehmen zu wollen, die mit der ehemaligen afghanischen Regierung oder ausländischen Institutionen zusammengearbeitet haben. Die Realität jedoch zeichnet ein anderes Bild: Ehemalige Mitarbeiter:innen des afghanischen Geheimdienstes (NDS) wurden hingerichtet, Journalist:innen werden landesweit verfolgt und an Checkpoints suchen die Taliban nach ehemaligen Soldaten. Human Rights Watch berichtet, dass ca. 100 Zivilpersonen getötet wurden, denen unterstellt wurde, sie würden den ISKP (Islamischer Staat der Khorasan Provinz) unterstützen.

Frauen werden aus dem sozialen Leben gedrängt.
Frauen dürfen das Haus nur in Ganzkörperverhüllung und in männlicher Begleitung verlassen. Mädchen ist der Besuch einer weiterführenden Schule verboten. Frauen dürfen in einigen Bereichen ihre Berufe nicht mehr ausüben. Wenn Sie z.B. als Journalistinnen, Staatsanwältinnen oder Regierungsberaterinnen tätig waren, wurden sie aufgefordert, einen männlichen Angehörigen als Nachfolger für ihre Stelle zu benennen. Amnesty International berichtet in einem Report von Juli 2022 mit dem Titel „DEATH IN SLOW MOTIONS. Women and girls under Taliban rule.“, dass der Zugang zum Schutzsystem von häuslicher Gewalt nicht mehr besteht. Zudem ist es zu einem Anstieg an Kinder- und Zwangsverheiratungen gekommen.

Mitarbeitende der GIZ werden im Stich gelassen
Derzeit erhalten viele ehemalige Mitarbeitende der GIZ nach Monaten des Wartens eine standardisierte Ablehnungsantwort. Dabei wird ihnen mitgeteilt, dass ihr Antrag auf Anerkennung geprüft und abgelehnt wurde – die Gründe für die Ablehnung ihres Antrags erfahren sie jedoch nicht.

Kontakt

Flüchtlingsrat Niedersachsen e.V.:
Maryam Mohammadi: 0511 – 84 87 99 76 | mmo(at)nds-fluerat.org
Annika Hesselmann: 0511 – 81 12 00 80 | ahe(at)nds-fluerat.org

Hintergrund

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Evakuierungen

Während am 29. Juni 2021 die letzten Bundeswehrsoldaten ausgeflogen wurden, wurden viele Afghan:innen, die als sogenannte Ortskräfte den Einsatz der deutschen Regierung unterstützen, allein gelassen. Das bereits seit Jahren bestehende Evakuierungsverfahren für Ortskräfte war seit Bekanntgabe des Truppenabzugs unzureichend personell ausgestattet. Nach der Machtübernahme hatten deutsche Ortskräfte nicht mehr die Möglichkeit, sich an das Büro in Kabul zu wenden, da die Mitarbeiter:innen ausgeflogen wurden. Viele Ortskräfte haben lange Zeit warten müssen, bis sie überhaupt eine Rückmeldung zu ihrem Aufnahmeersuchen erhalten haben. Die Kriterien waren zeitweise unklar. Auch die Frage, ob vulnerable Angehörige, die zwar nach der ausländerrechtlichen Definition nicht zur Kernfamilie gehören, aber dennoch auf die familiäre Gemeinschaft angewiesen sind, ebenfalls ausreisen dürfen, war weitgehend vom Zufall anhängig. Transparenz und Aufklärung fehlten völlig.

Die Definition von Ortskräften schließt nur Personen ein, die bis nach 2013 in einem direkten Anstellungsverhältnis standen (z.B. als Dolmetscher bei der Bundeswehr). Menschen, die bei der Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit (GIZ) angestellt waren und Projekte der deutschen Entwicklungszusammenarbeit durchgeführt haben, erhalten nur dann eine Aufnahmeerlaubnis, wenn sie zusätzlich glaubhaft machen, dass eine individuelle Gefährdung vorliegt. Wenn Menschen in Subunternehmen tätig waren und beispielsweise die Infrastruktur in den Camps geschaffen haben, sind sie von der Aufnahme ausgeschlossen.

Nach der Machtübernahme der Taliban entschied die deutsche Bundesregierung, neben den Ortskräften auf Aufnahmezusagen an einige besonders gefährdete Personen zu erteilen, wie Menschenrechtsaktivist:innen, kritische Journalist:innen, Richter:innen, Staatsanwält:innen oder Mitarbeiter:innen der ehemaligen Regierung ebenfalls Aufnahmezusagen. Leider blieb jedoch völlig intransparent, welche Kriterien hier zugrunde gelegt wurden. Die Vergabe von Aufnahmezusagen erschien teilweise willkürlich. Viele Menschen, die sich an das Auswärtige Amt wendeten haben bis heute auf ihr Aufnahmeersuchen niemals eine Rückmeldung erhalten.

Nach nun einem Jahr beobachten wir,

–                  dass immer mehr Ablehnungen zu Aufnahmeersuchen ehemaliger GIZ-Mitarbeiter:innen eingehen,

–                  dass viele Menschen mit Aufnahmezusagen noch nicht evakuiert worden sind,

–                  dass Menschen, die in Subunternehmen gearbeitet haben, kategorisch von der Aufnahme ausgeschlossen wurden,

–                  dass vulnerable Angehörige häufig nicht berücksichtigt werden.

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