Abgeschobene Roma werden im Kosovo allein gelassen

Zeit Online 22.10.2010

Plemetina – Das Gestrüpp hinter dem Haus der Familie Saitovic ist so hoch, dass Sanita darin fast verschwindet. Nur die fusselige rosafarbene Jogginghose, die schon zu kurz für die Achtjährige ist, scheint durch die trockenen Gräser. Das Mädchen spielt hier jeden Tag Verstecken. Doch eigentlich würde es gern etwas ganz anderes tun. Sanita wickelt sich eine schwarze Haarsträhne um den Finger und sagt leise: „Ich vermisse das Schreiben.“ Sie denke oft an die Schule zurück, und an ihre Lehrerin, Frau Filtkep. Sanita wäre jetzt eigentlich in der zweiten Klasse. Doch seit einem halben Jahr hat sie keinen Unterricht mehr besucht, genau wie ihre schulpflichtigen Schwestern Anita und Raze.

Die achtköpfige Familie wurde im März ins Kosovo abgeschoben. Die Saitovics gehören der Volksgruppe der Roma an, ihre Sprachen sind Deutsch und Romani. Die beiden Amtssprachen im Kosovo sind aber Albanisch und Serbisch, auch in den meisten Schulen. Die drei Mädchen könnten sich also nicht einmal mit ihren Klassenkameraden unterhalten.

Rund drei Viertel der Kinder, die aus Deutschland abgeschoben wurden, gehen im Kosovo nicht mehr zur Schule. Das hat eine Studie des Kinderhilfswerks Unicef herausgefunden. So wie Sanita und ihren Geschwistern mangelt es vielen an Sprachkenntnissen, anderen fehlen Zeugnisse oder Geburtsurkunden. Und es könnten noch mehr werden: Rund 12.700 Ausreisepflichtige sollen demnächst ins Kosovo abgeschoben werden, die meisten davon sind Minderjährige. Das regelt ein Rücknahmeabkommen, das die Innenminister der Bundesrepublik und des Kosovo im April unterzeichnet haben.

Die Familie Saitovic hat sieben Jahre lang in einem Ausländerheim im niedersächsischen Bramsche gelebt. Die Eltern, Baria Saitovic und Femija Kovaci, waren während des Kosovokrieges nach Makedonien geflohen und 2003 in die Bundesrepublik eingereist. Die Asylanträge wurden abgelehnt. Die achtköpfige Familie erhielt immer wieder Duldungen, mal auf einen, mal auf sechs Monate befristet.

Am 31. März klopfte die Polizei um fünf Uhr morgens an die Tür, sagt Femija Kovaci. Er sei vor den Augen seiner fünf Kinder in Handschellen gelegt worden. Die Familie habe eine halbe Stunde Zeit gehabt zu packen, eine Tasche pro Person. Dann ging es zurück in ein Land, das den sechs Kindern fremd ist.

Die zuständige Behörde, die Zentrale Aufnahme- und Ausländerbehörde Niedersachsens (ZAAB), teilt mit, dass die gesamte Familie ausreisepflichtig gewesen sei. Eine dauerhafte Aufenthaltserlaubnis erhielten Saitovic, Kovaci und ihre sechs Kinder nicht, „weil sie nicht lange genug in der BRD gelebt haben“, sagt ein Sprecher der ZAAB. Sieben Jahre reichten nicht: Wäre die Familie zwei Jahre früher eingereist, wären sie vor Abschiebung geschützt worden. Der 1. Juli 2001 war ein solcher Stichtag für minderjährige Kinder.

Außerdem, so der Behördensprecher, habe die Familie nicht selbst ihren Lebensunterhalt verdient. Wer geduldet ist, darf aber in der Regel nicht arbeiten. Das Elternpaar hatte keine Arbeitserlaubnis. Ihnen blieb nichts anderes übrig, als die Tage in dem überfüllten Wohnheim in Bramsche verstreichen zu lassen. Sie durften an keinen Sprachkursen teilnehmen. Integration Fehlanzeige.

Da sich die Familie weigerte auszureisen, leitete die Behörde die Abschiebung ein. Die Handschellen für den Vater seien nötig gewesen, so der Sprecher. Denn Femija Kovaci sei auf der Ausländerbehörde „aggressiv gegen die Mitarbeiter“ aufgetreten. Vorbestraft war Kovaci aber nicht.

Wer aus Deutschland abgeschoben wird, trifft am Flughafen in Priština auf Yllkë Deliu. Die Sozialarbeiterin vom Projekt 03 empfängt die unfreiwilligen Rückkehrer im Auftrag der Regierung. Sie sagt, manche Menschen kommen sogar im Schlafanzug an. „Ich habe viele gesehen“, sagt Deliu und hält ihre Hand an die Knie, „mit Pyjamas, die nur bis dahin reichten. Auch Kinder“. Das Bundesinnenministerium weiß von diesen Dingen nichts. „Nach der Kompetenzverteilung des Grundgesetzes sind für den Vollzug von Rückführungen grundsätzlich die Länder (Ausländerbehörden) verantwortlich“, teilte ein Sprecher auf Anfrage von ZEIT ONLINE schriftlich mit.

Die Familie Saitovic lebt jetzt in dem kleinen Dorf Plemetina im Norden von Kosovos Hauptstadt Priština. In dieser serbischen Enklave wohnen viele verarmte Roma-Familien. Die Spuren des Krieges vor elf Jahren sind noch zu sehen: Viele Häuser stehen in Ruinen, verkohlt, ohne Dach, die Backsteinwände sind zerlöchert. Hilfsorganisationen haben notdürftig neue Gebäude errichtet, ohne Putz, hier und da fehlen noch die Fenster.

Die Luft ist stickig. Vom Haus der Saitovics sieht man eines der beiden Braunkohlewerke, die Kosovo mit Elektrizität versorgen. Doch das Werk ist so marode wie die Gebäude hier: Stromausfälle sind an der Tagesordnung. Auch das Wasser ist häufig weg. Eine Toilette gibt es im Haus der Familie nicht.

Für die Miete der Saitovics kommt noch ein deutsches Rückkehrprojekt auf, vermutlich bis Jahresende. Ob seine Familie danach, im Winter, noch ein Dach über dem Kopf hat, weiß Femija Kovaci nicht. Der Familienvater hat keinen Job, keine Einkünfte.

Im Kosovo liegt die Arbeitslosigkeit laut Weltbank bei 47 Prozent. Dabei gibt es erhebliche ethnische Unterschiede: Mehr als ein Drittel der Roma-Minderheiten leben in extremer Armut. Zum Vergleich: Von den Kosovo-Albanern sind es 13, von den Kosovo-Serben vier Prozent. Kovaci sagt, Roma werden im Kosovo benachteiligt.

Die Eingliederung in eines der ärmsten Länder Europas soll eigentlich das Rückkehrprojekt Ura 2, zu Deutsch „die Brücke“, erleichtern – mit Wohngeld und einem Zuschuss für Einrichtungskosten. Allerdings nicht mehr in diesem Jahr: Weil es so viele Rückkehrer gibt, war der Jahresetat von 650.000 Euro bereits im Juni zu zwei Dritteln ausgeschöpft. Das Projekt will auch bei der Arbeitsvermittlung helfen. Ein hoffnungsloses Unterfangen: Im vergangenen Jahr wurden 800 Rückkehrer betreut, doch nur für 120 wurde ein Job gefunden. Die Hälfte derer, die Arbeit hatten, ist inzwischen schon wieder arbeitslos.

Allerdings hilft Ura 2 nur Menschen, die in Baden-Württemberg, Niedersachsen, Nordrhein-Westfalen oder Sachsen-Anhalt gelebt haben. Denn nur diese vier Bundesländer fördern das Projekt. Wer nicht aus diesen Ländern kommt, fällt in ein tiefes Loch.

Nicht einmal die Vereinten Nationen bieten diesen Abgeschobenen ein Auffangnetz. Das Büro des UN-Entwicklungsprogramms (UNDP) befindet sich im Zentrum von Priština, im Diplomatenviertel, direkt neben der Weltbank. Der Migrationsbeauftragte Alex Standish sieht die Vereinten Nationen in einer politischen Klemme. „Da wir Zwangsrückführungen ablehnen, haben wir uns von diesem Thema stets distanziert“, sagt Standish. „Denn sonst würden wir Abschiebungen billigen oder gar unterstützen.“

Stattdessen fördere das UN-Entwicklungsprogramm im Kosovo kommunale Verwaltungen. Ein zäher Prozess. „Wir haben gerade mal die freiwilligen Rückkehrer integrieren können“, sagt Standish. „Wenn jetzt Roma in größeren Zahlen abgeschoben werden, könnte das System komplett zusammenbrechen.“ Die Abschiebungen aus Deutschland, sagt Standish, machen ihm dabei am meisten Sorgen.

Das Kosovo fühlt sich jedoch stark genug, um mit den vielen Rückkehrern fertig zu werden: Innenminister Bajram Rexhepi sagt, das Land sei „sehr entschlossen“, die Rückkehrer ohne Diskriminierung zu unterstützen. Während der Minister über die Roma spricht, lehnt er sich in seiner schwarzen Couch zurück und fährt sich durch die kurzen weißgrauen Haare. Rexhepi verweist auf einen 2008 beschlossenen Aktionsplan, der die Integration von Rückkehrern mit Maßnahmen in den Bereichen Gesundheit, Bildung, Arbeit und Wohnung fördern soll.

Bei der Umsetzung gibt es jedoch alarmierende Defizite, wie die Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) im vergangenen Jahr feststellte. Den meisten Gemeinden liegt nicht einmal eine Kopie des Aktionsplans vor. Abgeschobene sind meist auf sich allein gestellt.

So etwa Sedat Hasani: Der Roma-Junge trägt ein löchriges T-Shirt, seine dunklen Haare sind ungekämmt. Der 13-Jährige wurde mit seinem jüngeren Bruder und seiner Mutter aus Hannover abgeschoben. Das letzte, was Sedats Heimatstadt Hannover ihm mitgegeben hat, ist sein Abschiebedokument. Der blaue Einreisestempel datiert vom 31. Oktober 2009. In dem Dokument steht als Adresse im Heimatland, an die die Familie zurückgeführt werden sollte: Kosovska Mitrovica, Fabrička 775. Die Adresse – das frühere Haus der Hasanis – führt zu einem Trümmerhaufen, auf dem Kinder mit roten Backsteinziegeln spielen. Viele Roma-Siedlungen im Nordkosovo wurden während des Krieges niedergebrannt.

Sedat wohnt jetzt mit seinem jüngeren Bruder und seiner Mutter in einer Wellblechhütte im Camp Leposaviç, einem Flüchtlingslager im Norden des Kosovo. Sedat und sein Bruder sagen, dass sie in Mülltonnen nach Essen suchen. Sie gehen nicht zur Schule, denn auch sie sprechen weder Albanisch noch Serbisch.

Boden und Wasser rund um das Lager sind schwer bleiverseucht. Die Rückstände stammen von einer stillgelegten Mine, in der noch zu sozialistischen Zeiten bis zu 15.000 Kumpel arbeiteten. Viele Menschen hier leiden an Nieren-, Herz- und Leberbeschwerden. Aus Sicht der OSZE ist die Bleiverseuchung der Roma-Camps eine der größten medizinischen Krisen in der Region.

Die Roma können sich die teuren Arztbesuche nicht leisten, Behandlungen und Medikamente müssen privat bezahlt werden. Auch die Hasanis haben keine Krankenversicherung. Die Ansprüche aus der gesetzlichen Krankenkasse, die sie noch in Deutschland hatten, sind mit der Abschiebung verwirkt.

Doch nicht nur die körperlichen Erkrankungen sind ein Problem: Viele abgeschobene Kinder leiden wegen des drastischen Wechsels ihrer Lebensumstände unter Traumata, sagt Kosovos Innenminister Bajram Rexhepi. Er appelliert an seinen deutschen Amtskollegen Thomas de Maizière, Deutschland solle „Rücksicht nehmen auf die empfindlichste Kategorie von Rückkehrern: Schüler in Grund- und weiterführenden Schulen.“ Sie sollten wenigstens noch bis zur Volljährigkeit in Deutschland bleiben.

Rexhepi räumt ein, das Rücknahmeabkommen unterzeichnet zu haben, um Kosovo außenpolitische Vorteile zu sichern. „Wir müssen unsere Pflichten erfüllen und können nicht nur Vorteile von diesen Ländern und der EU erwarten, die uns schon viel geholfen haben. Zudem sind wir in einem Prozess der Visa-Liberalisierung.“ Kosovo hofft auf baldige Erleichterungen bei den Reisebestimmungen seiner Bürger – und träumt von einer Zukunft in der Europäischen Union.

Für Sonita Saitovic, Sedat Hasani und ihre Geschwister gibt es diese Zukunft nicht. Sie dürfen nicht wieder nach Deutschland zurück.

http://www.zeit.de/gesellschaft/zeitgeschehen/2010-10/roma-kosovo-abschiebung?page=4

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