Auskunft des Niedersächsischen Innenministeriums an den Flüchtlingsrat zur ausländerrechtlichen Praxis vor dem Hintergrund der Corona-Pandemie (Stand 18.05.2020)
Der Flüchtlingsrat Niedersachsen hatte beim Niedersächsischen Innenministerium (MI) in mehreren Schreiben Anfragen und Anregungen übermittelt zum Umgang mit Problemen, die sich für Geflüchtete vor dem Hintergrund der Corona-Pandemie ergeben. Das MI hat darauf in drei Schreiben, die dem Flüchtlingsrat am 6. April, am 28. April und am 18. Mai übermittelt wurden, geantwortet.
Die nach Ansicht des Flüchtlingsrates wichtigsten Aussagen werden nachfolgend wiedergegeben.
Die Anfragen/Anregungen des Flüchtlingsrates sowie die Antwortschreiben des MI sind hier dokumentiert:
Fragen und Antworten des MI vom 06.04.2020
Fragen FRN vom 08.04.2020
Antwortschreiben MI vom 28.04.2020 auf Fragen/Anregungen vom 08.04.2020
Fragen FRN vom 28.04.2020
Antwortschreiben MI vom 18.05.2020 auf Frage/Anregungen vom 28.04.2020
Unterbringung – „lageangepasst“ Verteilung auf die Kommunen:
Da in großen Unterkünften und Lagern wie den Erstaufnahmeeinrichtungen (EAE) Menschen besonders durch das SARS-CoV-2 gefährdet sind, fordert der Flüchtlingsrat schon seit geraumer Zeit eine deutlich geringere Belegungsdichte und eine schnell Verteilung der Geflüchteten auf kleinere Unterkünfte in den Kommunen, ggf. unter Nutzung leerstehender Hotels, Pensionen, Hostels, Jugendherbergen etc.
Das MI teilt dazu mit, dass es weiterhin eine Zuweisung aus den EAEs in die Kommunen gibt Die Verteilung geschehe dabei „lageangepasst“ und nur nach vorheriger Gesundheitsuntersuchung der zu verteilenden Personen. Berichte aus den EAEs und aus anderen Gemeinschaftsunterkünften mit hoher Belegungsdichte, die den Flüchtlingsrat erreichen, lassen aber befürchten, dass die Zustände in (mindestens) einigen dieser Unterkünfte weiterhin nicht zu verantworten sind.
Gesundheitsversorgung für Bezieher:innen von AsylbLG-Leistungen – keine anonyme Behandlung:
Zur Problematik des Zugangs und der Sicherstellung der Gesundheitsversorgung für Geflüchtete und darunter auch jenen ohne Papiere verweist das MI darauf, dass dies auf Grundlage des Asylbewerberleistungsgesetzes (AsylbLG) gewährleistet sei. Eine anonyme Behandlung (z.B. über einen anonymen Krankenschein) für undokumentierte Personen/Papierlose scheide jedoch aus. Das MI weist auf die Verpflichtung öffentlicher Stellen (außer Schulen und anderen Bildungs- und Erziehungseinrichtungen) hin, bekannt gewordenen Daten von Menschen ohne Papiere an die Ausländerbehörden zu übermitteln (davon ausgenommen, sind u.a. Daten, die dem Arztgeheimnis unterliegen).
Die konkrete Praxis der Kostenübernahme der Gesundheitsversorgung, wie z.B. der Vergabe der Krankenscheine, ist den Kommunen überlassen, betont das MI.
Bei Personen, die nicht unter das AsylbLG fallen, sollten die Kosten einer Gesundheitsversorgung im Notfall auf Basis des § 23 SGB 12 möglich sein („Im Übrigen kann Sozialhilfe geleistet werden, soweit dies im Einzelfall gerechtfertigt ist.“).
Allerdings kann es sein, dass die Kosten von Personen, die Bürgschaften für Drittstaatsangehörige abgegeben haben, eingefordert werden. Das hänge nach Angaben des MI von einer jeweiligen Einzelprüfung ab.
Verlängerung von Aufenthaltspapieren und Erteilung von Duldungen:
Das Innenministerium verweist bzgl. einer Praxis, die eine nicht gesundheitsgefährdende Verlängerung von Aufenthaltspapieren und der Erteilung von Duldungen zulässt, auf seinen Erlass vom 26.03.2020 und 09.04.2020.
Soweit einzelne Ausländerbehörden bereits entsprechende Allgemeinverfügungen dazu erlassen haben, gelten diese fort. Dem MI sind 13 Ausländerbehörde bekannt, die Allgemeinverfügungen erlassen haben (siehe dazu im einzelnen unten).
Obgleich das BAMF bereits schriftlich gegenüber Verwaltungs- und Oberverwaltungsgerichten am 18.03.2020 erklärt hat, dass alle Dublin-Überstellung bis auf weiteres ausgesetzt seien, sieht das MI darin keine rechtliche Befugnis zur Erteilung von Duldung an Personen, deren Asylantrag als „unzulässig“ angelehnt wurde und die daher in einen anderen EU-Staat abgeschoben werden sollen. Diese Personen erhalten weiterhin keine Duldung.
Aufenthaltserlaubnisse, die an die Lebensunterhaltssicherung gekoppelt sind:
Das MI beabsichtigt (bisher) leider nicht, einen Erlass herauszugeben, der die Ausländerbehörden klar anweist, von der Voraussetzung der Lebensunterhaltssicherung bei der Erteilung von Aufenthaltserlaubnisse abzusehen, wenn es einen coronabedingten Verlust des Arbeits- oder Ausbildungsplatzes gibt. Das MI verweist auf die Hinweise des BMI und den darin den Ausländerbehörden eingeräumten weiten Ermessensspielräumen.
Bemerkenswert ist jedoch diese Aussage des MI: „Bei verständiger Würdigung unter Berücksichtigung der aktuellen beispiellosen weltweiten Situation dürfte nicht davon auszugehen sein, dass Ausländerbehörden einen vorübergehenden und coronabedingten Bezug öffentlicher Leistungen zum Anlass nehmen, bestehende Aufenthaltsrechte zu entziehen. Falls doch, könnte und müsste MI in seiner Fachaufsichtsfunktion hier ggf. nachsteuern“. Es ist also sinnvoll, im Einzelfall das MI (ggf. über den Flüchtlingsrat) zu informieren und um Nachsteuerung zu bitten!
Duldungen nach § 60b AufenthG sowie Beschäftigungsverbote weiterhin möglich:
Das MI verweist darauf, dass Abschiebungen nicht komplett ausgesetzt sind und weiterhin eine Mitwirkungspflicht bei der Identitätsaufklärung und Passbeschaffung besteht. Da ein Abschiebungshindernis auf Grund der Corona-Pandemie nur vorübergehend ist, wären aktuell auch „Rückführungen vorzubereiten, die zu gegebener Zeit vollzogen werden.“ Entsprechend spielt es nach Ansicht des MI dann auch keine Rolle, dass ein Verstoß gegen diese Mitwirkungspflicht ggf. nicht ursächlich dafür ist, dass eine Abschiebung nicht vollzogen werden kann. Daher wäre es laut MI auch nicht geboten, von einer Duldung nach § 60b (für Personen mit ungeklärter Identität), die immer ein Beschäftigungsverbot nach sich zieht, abzusehen.
Auch Beschäftigungsverbote, die wegen des Vorwurfs der Verhinderung der eigenen Abschiebung nach § 60a Abs. 6 Nr. 2 AufenthG verhängt wurden, sollten nicht auf Grund der Corona-Pandemie aufgehoben werden. Auch wenn aktuell der Verstoß gegen die Mitwirkungspflicht nicht ursächlich ist, dass Abschiebungen nicht durchgeführt werden können, so geht das MI davon aus, dass die Corona-Pandemie ein „vorübergehendes und – mehr oder minder – absehbar endendes Hindernis“ ist, so dass es keinen Grund gäbe vom Beschäftigungsverbot abzusehen.
Leistungskürzungen nach AsylbLG eingeschränkt:
Das MI weist zwar darauf hin, dass es bereits mit Erlass vom 26.03.2020 die Leistungsbehörden im Umgang mit Leistungskürzungen nach § 1a AsylbLG sensibilisiert habe und zudem durch aktuelle Hinweise Anspruchseinschränkungen weitgehend beschränkt seien. Anders jedoch als z.B. das Sächsische Landessozialgericht in seinem Beschluss vom 23.03.2020 kann das MI keine Anhaltspunkte erkennen, „dass die bestehenden Synergie- und Einspareffekte für die Bewohner bei einer längerfristigen Gemeinschaftsunterbringung allein durch die derzeitige Corona-Pandemie entfallen würden“. Und obgleich bereits mehrere Sozialgerichte – darunter auch das SG Hannover – erhebliche Zweifel geäußert haben, dass die am 01.09.2019 in Kraft getretene Kürzung der Leistungen für alleinstehende Erwachsene in Gemeinschaftsunterkünften mit dem Grundgesetz vereinbar ist, will das MI die Sozialämter weiterhin nicht anweisen, höhere Leistungen nach der Regelbedarfsstufe 1 zu zahlen. Das MI begründet dies damit, dass die Kürzungen im Bundesgesetz festgeschrieben sind und diese Regelung nicht außer Kraft gesetzt werden könne.
Leider sieht das MI auch keinen Handlungsbedarf, wenn Ausländerbehörden in Schreiben ausreisepflichtigen Personen mit Leistungskürzungen drohen, sollte sie eine Erklärung zur „freiwilligen Ausreise“ verweigern. Das Landessozialgericht Niedersachsen – Bremen hatte jedoch in einem Beschluss vom 16.01.2020 festgestellt, dass Leistungen nicht gekürzt werden dürfen, nur weil eine solche Erklärung zur „freiwilligen Ausreise“ nicht abgegeben wird.
Kein allgemeiner Abschiebungsstopp wegen Corona-Pandemie:
Das MI sieht kein Erfordernis für einen generellen formalen Abschiebungsstopp. „Die Veränderungen der allgemeinen Situation oder herkunftslandspezifische Einschränkungen, die eine lagespezifische Anpassung auf den Rückführungsvollzug erfordern, werden dabei tagesaktuell berücksichtigt“, so das MI.
Keine grundsätzliche Aussetzung der Abschiebungshaft:
Abschiebungshaft grundsätzlich auszusetzen, käme laut MI nicht in Betracht, da vereinzelt Abschiebungen möglich sein könnten, die dann notfalls auch über Abschiebungshaft sichergestellt werden müssten.
Das MI verweist in dem Zusammenhang darauf, dass sich gegenwärtig tatsächlich eine Person in Abschiebungshaft in der JVA Hannover-Langenhagen befindet und dies in einem Beschwerdeverfahren gerichtlich bestätigt wurde, obgleich eine Abschiebung seit mehreren Wochen faktisch nicht möglich ist.
Übersicht Allgemeinverfügungen von örtlichen Ausländerbehörden:
Dem MI sind 13 Ausländerbehörden bekannt, die zum Umgang mit der Corona-Pandemie Allgemeinverfügungen erlassen haben. Diese Allgemeinverfügungen regeln die Verlängerung von Aufenthaltstiteln, Aufenthaltsgestattungen und Duldungen. Aufenthaltsgestattungen und Duldungen werden in allen u.g. Städten und Landkreisen von Amts wegen bis zum 30.06.2020 (bzw. in einem Fall bis zum 29.06.2020) verlängert.
Landkreis Aurich
Stadt Emden
Landkreis Friesland
Landkreis Göttingen
Heidekreis
Stadt Lingen
Landkreis Osnabrück
Stadt Osnabrück
Landkreis Peine
Stadt Salzgitter
Landkreis Uelzen
Landkreis Vechta
Landkreis Wesermarsch
Im Landkreis Wolfenbüttel gibt es auch eine Allgemeinverfügung , die bis zum 30.06.2020 gilt.
Amtsblatt 21 aus 2020 herausgegeben am 01.04.2020