Endstation Lager

Von Norbert Mappes-Niediek

veröffentlicht in der Frankfurter Rundschau vom 23.04.2010 siehe auch Analyse – Schmutzige Hände.

Besuchern im Flüchtlingslager Cesmin Lug pflegt Latif Masurica ein riesiges Gurkenglas voller Visitenkarten zu zeigen: „Die waren alle schon hier“, sagt der Lagersprecher. „Passiert ist nichts.“ Auf den Karten stehen illustre Namen von Politikern, Diplomaten, Journalisten aus aller Welt. Alle waren hier und haben mit Masurica geredet, sind zwischen den Hütten umhergelaufen, waren bestürzt und haben rasche Abhilfe versprochen. Aber auch in diesem Jahr wieder trägt der Frühjahrswind die Asche von den Abraumhalden, die drohend über dem Lager stehen, und bläst sie zwischen den Unterkünften her. Noch immer leben hier um die 560 Menschen – die Hälfte Kinder, viele in zerlumpten Kleidern.

Jetzt droht dem schaurigen Ort Zuwachs: Nach dem Rückführungsabkommen, das beide Staaten jetzt unterzeichnet haben, muss die Republik Kosovo ihre Staatsbürger aus Deutschland zurücknehmen. Den großen Teil von ihnen machen geschätzte 10.000 Roma aus. Sie sollen nun zurück, pro Jahr bis zu 2500.

Die Deutschland-Rückkehrer werden, wenn sie am Flughafen Prishtina angekommen sind, von der Kosovo-Regierung erst einmal für eine Woche in einem Hotel untergebracht. „Wo sie dann bleiben, ist aber völlig ungewiss“, sagt Hil Nrecaj, ein kosovarischer Anwalt, der Roma-Rückkehrer berät. Ein halbes Jahr lang gibt es von der deutschen Regierung um die 150 Euro pro Kopf. Er habe aber noch niemanden getroffen, der nach dem halben Jahr einen Arbeitsplatz oder ein Einkommen gehabt hätte, sagt der Anwalt. Wanda Troszczynska von Human Rights Watch vermutet, dass sie in den kleinen Ghettos der Städte landen – vor allem in Prizren. Nrecaj fürchtet, dass für viele eines der Lager die Endstation wird.

Die Probleme beginnen schon nach einer Woche. „Die meisten haben kein Haus“, so Troszczynska, „und rufen Verwandte an“ – die alle selbst in Elendsvierteln wohnen. „Die Roma-Gemeinschaften sind jetzt schon um das Zehnfache überlastet“, erzählt Troszczynska, die im Winter 80 Familien im Kosovo besucht hat. Als sie vor bald 20 Jahren flohen, haben die Roma ihre Häuschen in der Regel verkauft.

Sozialhilfe gibt es im Kosovo nur für Familien mit einem Kind unter fünf Jahren – eine Bestimmung im übrigen, die auf einen deutschen Regierungsberater zurückgeführt wird.

Kinder sind die Hauptbetroffenen. „Sie sind alle in Deutschland geboren“, sagt Nrecaj, „und verstehen in kosovarischen Schulen kein Wort.“ Eingliederungshilfen gibt es nicht – oder nur auf dem Papier. Hierzulande bekannt wurde der Fall von Elvira Gashi, einer mittlerweile 21-jährigen Mutter von Kindern im Alter von drei und vier Jahren, die selbst als Einjährige nach Wolfenbüttel gekommen war – und 2009 zusammen mit ihrem gewalttätigen Ehemann ins Kosovo abgeschoben wurde. Also nicht einmal sie selbst hat eine Erinnerung an die Heimat ihrer Vorfahren.

Roma im Kosovo sind eine verdrängte Minderheit. Vor dem Krieg machten sie mit 120.000 an die sieben Prozent der Kosovo-Bevölkerung aus. Die Mehrheit spricht Serbisch, ein etwas kleinerer Teil, Aschkali genannt, Albanisch. Einige Tausend deklarieren sich als „Ägypter“ – der Legende nach sind ihre Vorfahren am Nil einst vor den Arabern geflüchtet und auf dem Balkan hängengeblieben.

Im Kosovo-Krieg gerieten sie zwischen die Fronten: Belgrad brauchte die „kleinen“ Minderheiten, um sie gegen die albanische Mehrheit in Stellung zu bringen. Hass ernteten sie, als sich manche Roma 1999 an den Vertreibungen und Plünderungen der Albaner durch die jugoslawische Armee beteiligten. „Verbale Belästigungen von Roma sind heute noch an der Tagesordnung“, berichtet Troszczynska.

Nach dem Nato-Einmarsch zündeten albanische Veteranen in den Städten Mitrovica und Vushtrri die Zigeunerviertel an. Die Roma flohen in den serbisch kontrollierten Norden. Als Unterkunft wurden ihnen zwei Gelände über dem großen Bergwerk von Trepca zugewiesen – mit extrem bleiverseuchtem Boden. „Unerträglich und eines der schlimmsten Gesundheitsrisiken in diesem Teil Europas“, konstatierte die UN-Mission im Lande.

Trotzdem blieb das Problem ungelöst: Die UN wollten die Flüchtlinge wieder in ihre alten Häuser im albanisch dominierten Teil des Kosovo bringen. Aus Furcht vor Übergriffen weigerten sich viele, die sichere serbische Umgebung zu verlassen. Im serbischen Norden aber mochten die UN nicht mit den von Belgrad bezahlten Parallelbehörden zusammenarbeiten. So fielen die Roma durch den Rost.

Volle sieben Jahre vergingen, bis die Flüchtlinge endlich die schlimmsten Giftdeponien räumen konnten. Seither leben sie in drei anderen, ebenso provisorischen Lagern.

Schmutzige Hände

Von Norbert Mappes-Niediek

Wie Italien mit afrikanischen Bootsflüchtlingen umgeht, stößt in Deutschland auf die fällige Empörung. Aber die ethnische Säuberung des eigenen Lands von Roma aus dem Kosovo verdient mindestens das gleiche Entsetzen. Was sich hinter dem harmlosen Titel eines „Rückführungsabkommens“ zwischen Deutschland und der neuen Balkan-Republik verbirgt, ist nicht nur eine humanitäre Katastrophe. Es denunziert im Nachhinein auch das Mitgefühl, das in diesem Land vor zehn Jahren den bedrängten Albanern im Kosovo zuströmte. Und es entschleiert damit die ganze deutsche Balkanpolitik mit ihrem Pathos von „Hilfe“ und „Heranführung“.

Mehr als 10.000 Menschen droht in den nächsten vier, fünf Jahren die Deportation. Sie kommen aus gepflegten deutschen Kleinstädten, in denen sie meist geboren und fast immer aufgewachsen sind, in die Hütten verschlammter Siedlungen – ohne Arbeit, ohne Schule, ohne Sozialhilfe, oft auch ohne Pass. Mit dem, was ihnen als „Integrationshilfe“ ins Elend geboten wird, können sich gerade mal die Verantwortlichen in Berlin die Hände in Unschuld waschen. Sonst dient es zu nichts.

Die Kosovo-Regierung, die vollständig von EU-Hilfe abhängig ist, hatte bei der Verhandlung des oktroyierten „Abkommens“ keine Chance. Sie gibt nur den Stummen Diener, auf dem man die Verantwortung abhängen kann. Die feierlich anerkannte „Souveränität“ des Kosovo wird nach nur zwei Jahren zum Hohn. Deutschlands guter Ruf im Kosovo ist schon jetzt nachhaltig beschädigt. Wer so mit seinen Mitbürgern umgeht, verdient für seine Predigten von Toleranz und multikulturellem Zusammenleben nur bitteres Gelächter.

Nach offizieller Lesart soll das Kosovo wie alle Balkanstaaten an die Europäische Union „herangeführt“ werden. Dass man sich damit auch Probleme und historische Belastungen einkauft, ist den politisch Verantwortlichen im Prinzip klar. Entweder schließt die Heranführung die Bereitschaft der Europäer ein, die Probleme des Ostens lösen zu helfen, oder die ganze Beitrittsperspektive ist bloß die Karotte, die man dem Pferd vorhält, um es ein Stück in die richtige Richtung zu bewegen. Soll der Balkan zur EU kommen, wird er seine Roma wieder mitbringen. Spätestens dann ist es mit Europas Abschiebepolitik sowieso vorbei.

Nähme Berlin seinen Anspruch ernst, müsste es für die Bürger des Kosovo die Grenzen öffnen, statt es als gut verlöteten ethnischen Mülleimer zu missbrauchen. Deutschlands Balkanpolitik begibt sich mit dem „Rückführungsabkommen“ auf das moralische Niveau der südafrikanischen „Homeland“-Politik in den 1970er Jahren: Man erfindet Staaten, um Menschen dorthin entsorgen zu können. Für die meisten Abschiebungskandidaten ist schon die Zuordnung zum Staat Kosovo reine Willkür. Sie haben von dort keine Papiere, sprechen die Sprache nicht und werden, wenn sie nicht zufällig mit Geburtsurkunden der Eltern und Großeltern aufwarten können, auch dessen Staatsbürgerschaft nicht bekommen. Roma gehören, so die Botschaft, weg – möglichst irgendwo nach Osten.

Pate bei dem sauberen Abkommen steht die Hoffnung, Deutschland möge vom Schmutz und Elend des Balkan rein bleiben. Das Gegenteil wird eintreten: Beim Versuch der Säuberung beschmutzt man sich selbst – eine Erfahrung, die gerade die Balkan-Gesellschaften gemacht haben.

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