Nachfolgend die HAZ-Reportage vom 15. Juni 2015:
Menschenschmuggler aus Überzeugung
Vor gut einem Jahr begann Ramesh’ Odyssee, die ihn nach vielen Wirren schließlich nach Hitzacker brachte. Der junge Afghane stammt aus einer Familie, die, verfolgt von den Taliban, in den Iran flüchtete. Als erster hatte sich vor Jahren Rameshs sechs Jahre älterer Bruder auf den Weg nach Europa gemacht und im Wendland eine der drei Töchter von Franziska Hagelstein kennen- und liebengelernt. Als die Hagelsteins erfuhren, dass Ramesh es geschafft hatte, aus dem Iran nach Athen zu gelangen, entschloss sich Franziska Hagelstein spontan zu einem ungewöhnlichen Schritt: Sie wollte ihn selbst die 3000 Kilometer nach Deutschland schleusen. „Ich hätte mir nicht mehr im Spiegel begegnen mögen mit dem Wissen, jetzt reist ein 15-jähriger Junge, unter einem Lkw hängend, durch Europa und niemand weiß, ob ihn sein Weg nach Deutschland oder in den Tod führen wird“, notierte sie später.
So gab es trotz aufkeimender Zweifel kein Zurück. Franziska Hagelstein startete Ende Juni mit einem Bekannten und einem VW-Bus Richtung Südosten. In Athen nahmen sie den Jungen auf und versteckten ihn in einem Schlafsack unter dem Bett des Campingbusses. Nach Bulgarien gelangten sie, obwohl Franziska gesundheitlich angeschlagen war, noch ohne Probleme. Doch an der Donaubrücke, die vom bulgarischen Vidin ins rumänische Calafat führt, flog der spontan beschlossene „Menschenschmuggel“ auf. Ein Grenzbeamter filzte den Campingbus, bis er den Jungen unter dem Bett entdeckte. Qualvolle Stunden des Wartens folgten, bis Franziska Hagelstein und ihr Begleiter ins Gefängnis der Grenzpolizei gebracht wurden; vier Räume, eine Toilette, die einer Kloake glich, Gestank, Geschrei, und Matratzen, auf die sich keiner setzen will. „So viel Dreck habe ich in meinem Leben noch nicht gesehen“, sagt Franziska Hagelstein über die erste Nacht, die sie, geplagt von einer Blasenentzündung, nur unter Krämpfen durchwachte.
Am nächsten Tag wird die Gruppe – stets in Handschellen – in ein Untersuchungsgefängnis gebracht, vermutlich ein Männergefängnis, denn Franziska Hagelstein wird in eine Einzelzelle gesperrt. Am Morgen kommt ein Anwalt mit einer Dolmetscherin und dem Hinweis, dass jeder nur einen Anruf tätigen dürfe. Der Anwalt unterbreitete sehr fragwürdige Alternativen, berichtet Franziska Hagelstein. „Wir sollten zu Hause anrufen, um Folgendes zu sagen: Für den Fall, dass wir unschuldig seien, müssten wir bis Oktober oder November auf einen Prozess warten, die Wahrscheinlichkeit eines Freispruchs sei gering. Bei einer Verurteilung hätten wir mit zwei bis acht Jahren Gefängnis in Bulgarien zu rechnen.“
Bis zum Nachmittag sollten sie sich entscheiden. Der Anwalt riet den beiden Deutschen zu einem Schuldeingeständnis. Dann seien sie in einigen Tagen frei, der Bus allerdings würde konfisziert. Und an den Anwalt selbst seien in diesem Fall jeweils 2000 Euro pro Person zu zahlen – am besten bar auf die Hand. Doch wer schleppt 4000 Euro mit sich herum?
Die Ereignisse überschlagen sich, zumindest in Hitzacker, wo Franziskas inzwischen ein- und zugeschalteter Mann Thomas versucht, Geld aufzutreiben sowie einen vertrauenswürdigen Anwalt und diplomatische Hilfe der Deutschen Botschaft in Sofia – mit dem Ziel, Franziska und ihren Begleiter so schnell wie möglich aus dem Gefängnis zu bringen. Ein kompetenter Anwalt aus Sofia ist zur Stelle, doch die „Befreiung“ aus der Haft misslingt. Nach einem ersten „Tribunal“, bei dem die Richterin die Angeklagten kaum eines Blickes würdigt, landet Franziska wieder in der Einzelzelle. Tage vergehen, ja Wochen voller Ungewissheit – bis es am 32. (!) Tag zu einem erneuten „Tribunal“ kommt. Es endet mit einer zur Bewährung auf drei Jahre ausgesetzten Haftstrafe von neun Monaten.
„Warum hat es so lange gedauert, bis es zum Prozess kam? Wir wissen es nicht“, sagt Thomas Hagelstein heute. Hat man den Prozess bewusst verschleppt, weil die geforderten 4000 Euro an den ersten Anwalt nicht eingingen? Oder weil die Beamten in der kleinen bulgarischen Stadt von den vielen Flüchtlingen geradezu überschwemmt wurden in jenen Tagen? „Wir würden die Umstände, unter denen Franziska im Gefängnis saß, hier jedenfalls als Folter bezeichnen“, sagt der Ehemann und zählt auf – unerträgliche hygienische Zustände, niemals Sonnenlicht, kaum Ausgang, selten Möglichkeiten zu telefonieren. Und 24 Stunden dauerhaft unter Kunstlicht. Dazu die völlige Ungewissheit, was geschehen wird.
Noch schlimmer hätte es kommen können, wenn die bulgarischen Behörden erfahren hätten, dass Ramish ein minderjähriger Flüchtling ist. Dann wären die beiden Deutschen wegen „Kindesentführung“ belangt und für Jahre ins Gefängnis gesteckt worden.
Ramesh hat sich später auf eigene Faust nach Hitzacker durchschlagen können, wo es Franziska gelang, mit Ausdauer, Charme und gelegentlichem Druck die Ämter zu überzeugen, dass eine Pflegschaft das Beste für den Jungen wäre. Die Chancen, jetzt Asyl in Deutschland zu bekommen, seien für Ramesh gut.
So endet vorerst die Odyssee dieses Jungen, der eine Familie um einen VW-Bus und etliche Tausend Euro ärmer, aber um wesentliche Erfahrungen reicher gemacht. So freundlich können „Menschenschmuggler“ aus dem Wendland sein. Doch eine Fortsetzung folgt: Jetzt wollen die Hagelsteins versuchen, Rameshs Familie aus dem Iran zu holen.
Ein wachsendes Problem: Tausende Jugendliche sind derzeit allein auf der Flucht aus dem Nahen Osten oder Afghanistan in den Westen. Das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) registrierte im vergangenen Jahr allein 4399 unbegleitete Minderjährige, die in Deutschland einen Asylerstantrag stellten, davon waren 1008 Menschen unter 16 Jahre alt – wie Ramesh aus Afghanistan. Der Großteil dieser jungen Flüchtlinge war nach BAMF-Angaben 16 bis 18 Jahre alt (3391 Antragsteller). Unbegleitete Minderjährige werden in der Regel nach ihrer Ankunft dem örtlich zuständigen Jugendamt übergeben, das für die Inobhutnahme zuständig ist. Die Ämter können die Jugendlichen bei Familien, in Pflegeheimen oder anderen Einrichtungen unterbringen.
Ramesh, dessen Asylverfahren noch läuft, besucht in Deutschland die Schule – zum ersten Mal in seinem turbulenten Leben. Mehr als ein Jahr war er auf der Flucht – und hat sich mit Gelegenheitsarbeiten durchgeschlagen, etwa auf dem Bau. Der Junge, der jetzt auch mit Privatstunden sowie in seiner Gastfamilie Deutsch lernt, ist äußerst wissbegierig. Was er einmal werden will? „Arzt“, sagt er – und lacht. mbb
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