Flüchtlingsunglück im Mittelmeer dokumentiert das Versagen der europäischen Flüchtlingspolitik

Am Montagfrüh ist ein Flüchtlingsboot, das 500 bis 550 Menschen, darunter viele Minderjährige, an Bord hatte, vor der libyschen Küste gekentert. Rund 400 Menschen starben vor den Augen der italienischen Rettungsschiffe, die noch 144 Flüchtlinge vor dem Ertrinken retten konnte. Der Hochkommissar der Vereinten Nationen, António Guterres, rief Europa auf, mehr zur Rettung der Flüchtlinge zu tun. Es sei bedauerlich, dass die italienische Operation „Mare Nostrum“ zur Rettung schiffbrüchiger Flüchtlinge ohne hinreichenden Ersatz ausgelaufen sei. „Wir appellieren an alle Regierungen der betroffenen Region, der Rettung von Menschenleben Priorität einzuräumen“.

siehe Kommentar UNHCR auf YouTube

Fast 10 000 Menschen wurden nach Angaben der italienischen Küstenwache binnen weniger Tage auf See gerettet. Italiens Kommunen und Regionen warnen, keine Flüchtlinge mehr aufnehmen zu können. „Wir sind am Ende unserer Kräfte“, sagte Giuseppe Geraci, Bürgermeister der kalabrischen Stadt Corigliano Calabro. „Wenn morgen weitere Migranten ankommen, können wir keine Unterstützung mehr garantieren.“ Im Auffanglager auf Lampedusa, das für gut 250 Menschen ausgelegt ist, hielten sich am Dienstag mehr als 1400 Menschen auf.  Derzeit hat Italien in Europa die höchsten Steigerungsraten bei der Zahl der Flüchtlinge zu verzeichnen. Die italienische Regierung tut zu wenig, um für Flüchtlinge in Italien ausreichende menschenwürdige Aufnahmekapazitäten zu schaffen. Mit 1,1 Flüchtlingen auf tausend Einwohner:innen liegt die Flüchtlingsquote 2014 in Italien nur im europäischen Durchschnitt. Zehntausende von Flüchtlingen leben in Italien auf der Straße.

Verantwortlich für die Misere ist jedoch vor allem die europäische Flüchtlingspolitik, die es bis heute versäumt hat, ein solidarisches Aufnahmesystem zu etablieren, und weiterhin alles daran setzt, Flüchtlinge abzuwehren. Die Zahl der Flüchtlinge, die sich auf die lebensgefährliche Überfahrt über das Mittelmeer gen Norden machen, wächst unter anderem auch deshalb, weil Fluchtmöglichkeiten auf dem vergleichsweise gefahrlosen Landweg immer weiter verbaut werden. Bis 2012 flohen etwa drei Viertel aller Flüchtlinge über die Türkei nach Europa. Inzwischen ist die Grenze zwischen der Türkei und Griechenland abgeriegelt.

Auch wenn es erste Fälle von Flüchtlingen gibt, die mit dem Boot über das Schwarze Meer aus der Türkei einreisen, ist die Grenzzaunrund 274 Kilometer lange türkisch-bulgarische Landgrenze der zentrale Weg in das EU-Land. Bulgarien arbeitet derzeit an der Abschottung nach griechischem Vorbild: Ein 3,5 Meter hohe Zaun soll bis zum Sommer die Grenze abriegeln. 33 Kilometer stehen bereits, weitere 82 Kilometer Grenzzaun sind in Planung. Dann könnte die Zahl der Bootsflüchtlinge auf dem Schwarzen Meer zunehmen. Bereits jetzt wehrt die bulgarische Grenzpolizei mit brutalen Push Back-Operationen Flüchtlinge ab. Hierbei kam es kürzlich zu Toten. Zwei irakische Flüchtlinge erfroren nachdem sie von bulgarischen Grenzbeamten brutal misshandelt, illegal in die Türkei gebracht und auf türkischer Seite ihrem Schicksal überlassen worden waren.

Die massiven Grenzkontrollen sorgen schon jetzt dafür, dass Flüchtlinge auf die weitaus gefährlichere Mittelmeerroute abgedrängt werden. Für die Flucht auf dem Landweg über Bulgarien nach Deutschland müssen Flüchtlinge an Fluchthilfeorganisationen zwischen 7500 und 12 000 Euro pro Person zahlen, für eine Mittelmeerüberquerung nach Italien rund 5000 Euro.

Bis zum November des vergangenen Jahres lief im Mittelmeer die Aktion „Mare Nostrum“ (unser Meer). Im Rahmen dieser Rettungsmission der italienischen Marine wurden mehr als 100.000 Flüchtlinge gerettet. Doch die Last von monatlich 9 Millionen Euro wollte Rom nicht mehr allein tragen. Vergeblich forderte die italienische Regierung eine Fortsetzung der organisierten Rettungspolitik durch die EU. Schließlich stoppte man die Operation, und die EU übernahm im November mit der Mission „Triton“ die Patrouille. Deren Schiffe dürfen aber nur innerhalb von 30 Seemeilen zur EU-Grenze unterwegs sein. Ihre vorrangige Aufgabe ist nicht mehr Seenotrettung, sondern Grenzkontrolle.

mare nostrumIn Reaktion auf das erneute Schiffsunglück fällt dem deutschen Außenminister Frank Walter Steinmeier nur ein, eine „Verbesserung der Lebensverhältnisse in der Heimat der Flüchtlinge“ zu fordern. Wo dies möglich wäre – etwa im Kosovo – lässt es Europa an politischen Initiativen für eine stärkere wirtschaftliche Einbindung und Zusammenarbeit fehlen und überlässt das „Armenhaus Europas“ weitgehend seinem Schicksal. Hinsichtlich der aktuellen Krisenherde auf der Welt – Syrien, Afghanistan, Irak – erscheint das Gerede von der „Bekämpfung der Fluchtursachen“ als Plazebo, um von den Fragen abzulenken, die doch eigentlich im Fokus stehen sollten: Wie kann eine funktionierende Seenotrettung im Mittelmeer aufgebaut und organisiert werden? Und wie ermöglichen wir Flüchtlingen z.B. aus Syrien, die offenkundig Hilfe brauchen, eine gefahrlose Flucht nach und Aufnahme in Europa? Frank Schwabe, in der SPD-Bundestagsfraktion Sprecher für Menschenrechte und humanitäre Hilfe, forderte ein Aufnahmekontingent für syrische Flüchtlinge von mindestens 200.000 Menschen. Bisher hat Deutschland die Aufnahme von 20.000 zugesagt.

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