Andere Quellen


 

Alles beim Alten ?!

Kommentar zum Lagebericht Türkei 07/01

(vom Türkei-Projekt des Nds. Flüchtlingsrats)

Länger als ein Jahr ließ der neue Lagebericht des AA zur Türkei auf sich warten, x-mal wurde er angekündigt, nichts passierte. Am 24.07.01 war er dann endlich fertig. Die lange Verzögerung verwundert um so mehr, als der Bericht im Vergleich zum letzten keine wesentlichen Veränderungen beinhaltet. Hier und da wurden Zahlen aktualisiert, politische Ereignisse erwähnt, und an ein paar Formulierungen wurde gefeilt, ohne dass dies den Inhalt berührt hätte. Im Großen und Ganzen also eine Neuauflage des Berichts aus 2000.

Zur Auflistung von Abschiebefällen kamen nur zwei neue hinzu: die Abschiebungen von Hüseyin Calhan und Mehmet Kilic im Oktober 2000, beide Sprecher des Wanderkirchenasyls in NWR. Calhans Abschiebung soll demnach unproblematisch verlaufen sein. Mehmet K.s Angaben zur Verfolgung nach der Abschiebung hält das AA für detailarm und vage. Allein die Art und Weise der fast zweiseitigen Beschreibung des Falls macht klar, dass das AA ihn für unglaubwürdig einschätzt, auch wenn es nicht explizit ausschließen möchte, dass die Angaben Kilic' zutreffen.

Die Gründe dafür, dass und vor allem wie die Abschiebefälle Calhan und Kilic aufgeführt wurden, sind ziemlich durchsichtig: Als Präzedenzfälle für die angebliche Gefahrlosigkeit einer Abschiebung von WKA-Teilnehmern. Ansonsten werden die alten Abschiebefälle wie gehabt aufgelistet. Dass das Auswärtige Amt aktuelle Fälle von Misshandlung nach der Abschiebung im Lagebericht ignoriert, war bereits 1999 und 2000 Anlass zur Kritik durch PRO ASYL und Nds. Flüchtlingsrat. Dazu findet sich im Vorspann des aktuellen Berichts neuerdings folgender Hinweis:

"Es wird darauf hingewiesen, dass das Auswärtige Amt nicht nur in den genannten Fällen, sondern auch in anderen Fällen, in denen es substantiiert, d.h. unter Angabe von Details um Überprüfung gebeten wurde, Nachforschungen zu behaupteten Misshandlungen Abgeschobener durchgeführt hat. Es ist jedoch nicht Aufgabe des vorliegenden Berichts, darin die Sachverhalte zu allen Einzelfällen, in denen dem Auswärtigen Amt Erkenntnisse vorliegen, zu beschreiben."

Damit gesteht das AA wenigstens an einer Stelle ein, dass mehrere weitere Fälle von Folter und Verfolgung nach der Abschiebung vorliegen. Trotzdem ist es nicht nachvollziehbar, weshalb das AA erstens immer wieder alte Beispiele aus den Jahren 96-99 aufführt, wo längst neuere vorliegen, und zweitens Beispiele nennt, die es nicht für verifizierbar oder glaubhaft hält, andererseits aber Fälle, die vom BAFl, den Gerichten und/oder vom AA selbst bestätigt wurden, überhaupt nicht erwähnt.

Eine wesentliche Verschlechterung könnte in der Einschätzung zur medizinischen Versorgung psychisch kranker Menschen liegen. Dem letzten Lagebericht lag noch ein ausführlicher Anhang bei, in dem u.a. stand: "Eine der größten Schwierigkeiten ist die fast völlige Ausweglosigkeit bestimmter betroffener Gruppen (...), adäquate Behandlungsmethoden/-verfahren in Anspruch nehmen zu können: hierzu gehören traumatisierte Menschen, vergewaltigte Frauen, Menschen mit Angsttraumata nach Mißhandlungen (...) - um nur einige zu nennen." Im neuen Bericht wurde das Thema auf zwei Sätze gekürzt, die unter Punkt IV. 3 a. eingefügt sind: "Die Behandlung psychisch kranker Menschen ist in allen Krankenhäusern mit einer psychiatrischen Abteilung möglich. Die Behandlung von posttraumatischen Belastungsstörungen kann durch medikamentöse und psychotherapeutische Therapien erfolgen." Diese plötzliche Kehrtwende sieht schwer nach einem politisch motivierten Versuch aus, die Gewährung von Abschiebehindernissen nach § 53 Abs. 6 AuslG einzuschränken. Angesichts der Tatsache, dass Ärzte, die in der Türkei Folteropfer behandeln, permanent unter Druck gesetzt werden und nur unter erschwerten Bedingungen arbeiten können und die Arbeit des Folteropferzentrums TIHV regelmäßig blockiert wird, mutet die Einschätzung des AA geradezu zynisch an. Erst vor wenigen Tagen bezeichnete die Staatsanwaltschaft Diyarbakir die Behandlung von Folteropfern durch die Menschenrechtsstiftung TIHV als "illegale Aktion" und ordnete eine Beschlagnahmung von Patientenunterlagen an.

Ansonsten finden sich Veränderungen, die zwar größtenteils nicht gravierend, so doch erwähnenswert sind. Stand im alten Bericht noch kommentarlos "Die Verfassung garantiert die Unabhängigkeit der Gerichte", so wurde diese trockene und in der Praxis unrealistische Behauptung nun ergänzt durch die Anmerkung, dass Richter in der Türkei aufgrund ihrer "streng etatistischen Ausbildung" von ganz alleine dazu tendieren, den Staat vor als subversiv empfundenen Handlungen zu schützen, ohne dass eine politische Einflussnahme nötig sei. Zur Einschätzung, dass die Presse weitgehend frei berichten kann, ergänzte das AA nun: "... solange Fragen der (sehr weit ausgelegten) Staatssicherheit und die Rolle des Militärs nicht berührt werden". Zur Sippenhaft heißt es jetzt, dass Familienangehörige häufig zu Vernehmungen geladen werden. Die Aussage stand im letzten Bericht noch im Konjunktiv.

Mit der Beibehaltung alter Satzbausteine, die im neuen Bericht durch Halbsätze ergänzt werden, verwickelt sich das Auswärtige Amt zunehmend in Widersprüche, die das Bemühen widerspiegeln, Menschenrechtsverletzungen einzelnen Sicherheitskräften zuzuschustern und den türkischen Staat letztendlich aus der Verantwortung zu nehmen - was nicht recht gelingt:

Auf der einen Seite behauptet das AA, nicht der Stand der Gesetzgebung und das geltende Recht seien hinsichtlich der Menschenrechtssituation das Hauptproblem, sondern deren Umsetzung in die Praxis. Auf der anderen Seite stellt das Amt aber fest, dass die Verfassung Grundrechte einschränkt, die Incommunicadohaft "Übergriffe" (sprich Folter) begünstigt und dass es auf dem innerstaatlichen Rechtsweg keine wirksame Rechtsbehelfe gegen Übergriffe gibt. Das heißt: das geltende Recht schafft strukturelle Voraussetzungen für Folter und Repressionen, gegen die man sich praktisch nicht wehren kann.

Weiter behauptet das AA, dass die Menschenrechtspraxis an der unzureichenden Beachtung geltenden Rechts durch die Sicherheitskräfte leide, von denen sich der Staat allerdings regelmäßig distanziere. Auf der anderen Seite stellt es fest, dass Menschenrechtsverletzungen der Sicherheitskräfte von staatlichen Stellen bisher nur selten verfolgt werden. Also: Der Staat schafft quasi ein Klima der Straffreiheit für Folterer, Distanzierungen entpuppen sich damit als Lippenbekenntnisse.

Last but not least stellt das AA neuerdings fest, dass Sicherheitskräfte neben der Sicherung des Staates nach außen "eine Schlüsselrolle in der Politik und der inneren Sicherheit" einnehmen. Auf der anderen Seite versucht das AA geradezu zwanghaft, auch weiterhin eine Trennung zwischen Staat und den Sicherheitsorganen zu konstruieren, die es faktisch nicht gibt. Die tatsächliche Rolle des Militärs wird regelmäßig unterschlagen.

Die Aufzählung von politischen Ereignissen und Einschätzungen ist selektiv und wird dadurch wertend. Ein Beispiel ist das "Verschwinden" der beiden HADEP'ler Tanis und Deniz in Silopi. Das AA schreibt dazu, dass diese "unbestätigten Meldungen der türkischen Presse" zufolge in ein PKK-Lager im Nordirak verschleppt worden sein sollen. Das hört sich ziemlich nach türkischer Propaganda an. Die Einschätzung von Menschenrechtsorganisationen, dass die beiden von staatlichen Stellen verschleppt wurden, fehlt im Bericht. Überhaupt nicht erwähnt wird z.B., dass Sema Piskinsüt, die als Vorsitzende der Parlamentarischen Menschenrechtskommission Berichte über Folter und Misshandlung auf Polizeistationen veröffentlicht hatte, abgesetzt und durch einen Abgeordneten der nationalistischen und rechtsextremen MHP ersetzt wurden. Gegen Piskinsüt wurde nun ein Verfahren eingeleitet, um sie zur Herausgabe der Namen der Folteropfer zu zwingen. Kein Wort wird verloren über die pogromartigen Ausschreitungen gegen KurdInnen in Susurluk im April 01. Ebensowenig findet der Prozess gegen Frauen Erwähnung, die öffentlich darüber berichtet hatten, dass sie in Polizeihaft vergewaltigt wurden. Die Liste weiterer Beispiel ist lang.

Insgesamt ist der Bericht, wie seine Vorgänger, in seinem Grundton nach wie vor diplomatisch zurückhaltend und mehr um Verständnis für die Türkei bemüht, als um eine objektive und realistische Darstellung.