Schünemann und die Kostgänger
Die niedersächsische Flüchtlingspolitik ist erbarmungslos wie nie zuvor
„Kein Vorschlag kann abwegig genug sein, um nicht zumindest vom niedersächsischen Innenminister verbreitet zu werden.“ Mit seiner spöttischen Kritik an den Forderungen seines niedersächsischen Amtskollegen Uwe Schünemann nach elektronischen Fußfesseln und einer Verschärfung des Einbürgerungsrechts hatte der schleswig-holsteinische Innenministers Ralf Stegner (SPD) die Lacher auf seiner Seite. Nicht wenigen Flüchtlingsunterstützern und Menschenrechtsaktivisten bleibt angesichts der vom Land Niedersachsen verfolgten Flüchtlingspolitik jedoch das Lachen im Hals stecken: Der Mann redet nicht nur, er handelt auch.
Seit dem Regierungswechsel in Niedersachsen hat der niedersächsische Innenminister Uwe Schünemann die Flüchtlingspolitik des Landes gründlich umgekrempelt. Weil eine pragmatische, menschenfreundliche, der faktischen Einwanderung und Integration von zehntausenden Flüchtlingen Rechnung tragende Politik nach seiner Auffassung weitere Flüchtlingsgruppen nach Deutschland locken würde und dies um jeden Preis zu verhindern sei, tut Schünemann alles, um Asylsuchende und Flüchtlinge zu marginalisieren und aus dem Land zu vertreiben. Folgende Kennzeichen der von Schünemann verfolgten Flüchtlingspolitik lassen sich ausmachen:
1. Intensivierung der Abschottung von Flüchtlingen in separaten Lagern,
2. Verschärfung der Abschiebungspraxis,
3. Restriktive Umsetzung des Zuwanderungsgesetzes
4. Blockade einer Bleiberechtsregelung für Altfälle
Die vom niedersächsischen Innenministerium in diesen Teilbereichen ergriffenen Maßnahmen sollen nachfolgend näher beschrieben und bewertet werden:
Lagerunterbringung
Die Unterbringung von Flüchtlingen in Lagern ist keine Erfindung des
niedersächsischen Innenministers. Bereits sein sozialdemokratischer
Vorgänger Heiner Bartling versuchte sich mit einem „Modellprojekt“
zu profilieren, das die Ausgrenzung von unerwünschten Flüchtlingen
in separaten Lagern zum Ziel hatte und mit der Einführung von „Ausreisezentren“
in das Zuwanderungsgesetz schließlich bundesweit übernommen wurde.
Anders als Bartling setzt Schünemann jedoch alles daran, nicht nur
Einzelpersonen, sondern möglichst alle ankommenden Flüchtlinge
für die gesamte Dauer des Asylverfahrens in Lagern zu isolieren und
einen Kontakt mit der Bevölkerung nach Möglichkeit zu unterbinden.
Trotz zurückgehender Flüchtlingszahlen erhöhte die Landesregierung
die Zahl der Aufnahmeplätze in landeseigenen Lagern. Dabei kostet ein
Platz dort nach Auskunft des Landesrechnungshofs etwa das Dreifache eines
dezentralen Unterbringungsplatzes. Die Konsequenz ist, dass immer weniger
Flüchtlinge in die Kommunen verteilt werden.
Das Kalkül dieser Politik der Isolation und Lagerunterbringung liegt auf der Hand: Je weniger die Flüchtlinge wissen und je geringer der Kontakt zu Nachbarn oder externen Beratungsstellen ist, desto eher sind sie bereit, den Einflüsterungen der Behörden Glauben zu schenken, sie hätten in Deutschland keine Perspektive und sollten daher besser „freiwillig“ in ihre Heimat zurückkehren.
Eine ergebnisoffene Perspektivenberatung ist vom Innenministerium in den Lagern nicht vorgesehen. Stattdessen erhalten die Flüchtlinge eine „Rückkehrberatung“ mit Hinweisen auf Förderungsmöglichkeiten für den Fall einer „freiwilligen“ Ausreise. Der Erfolg oder Misserfolg der Beratungsarbeit wird von der Landesregierung vor allem an der „Rückführungsquote“ gemessen. In ihrer Unterrichtung des Landtags vom 15.3.2005 über „Einsparmöglichkeiten bei den Aufnahmestellen des Landes für Asylbewerber“ (Drs. 15/1749) stellt die Landesregierung u.a. fest:
„Die Neuausrichtung und –konzeption der Außenstelle Bramsche
seit April 2004 hat bereits nach wenigen Monaten hinsichtlich der Rückführungen
zu einer erheblichen Veränderung geführt: Während in 2003
lediglich 107 Personen zurückgeführt werden konnten (einschließlich
Abschiebungen), sind 2004 allein 95 Personen freiwillig ausgereist und weitere
55 Personen konnten an aufnahmebereite Drittstaaten überstellt werden.
Insgesamt betrug die Zahl der Rückführungen für 2004 in Bramsche
358 Personen. Die Erfahrungen und Kompetenzen in Bramsche sollen darüber
hinaus auch dafür genutzt werden, die Verstärkung der Rückführungsansätze
– insbesondere die Beratung zur freiwilligen Rückkehr –
auch in den übrigen Gemeinschaftsunterkünften der Zentralen Aufnahme-
und Ausländereinrichtungen zu intensivieren.“
Quelle: Landtags-Drucksache 15/1749, S. 3
Verschärfung der Abschiebungspraxis
Bereits zu Beginn der Legislaturperiode ordnete Schünemann an, die
aus dem Jahr 1985 stammenden Vorgaben der alten Landesregierung kurzerhand
abzuschaffen, die eine Vermeidung von Abschiebungen und Abschiebungshaft
unter Bezugnahme auf den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz und
die Persönlichkeitsrechte der Betroffenen zum Ziel hatten. Dazu gehörte
z.B. die Verpflichtung der Ausländerbehörden, Abschiebungen im
Regelfall vorher anzukündigen, um den Betroffenen so die Gelegenheit
zu geben, ihre persönlichen Verhältnisse zu ordnen und sich von
Nachbarn und Freunden zu verabschieden. Stattdessen forderte der Innenminister
die Ausländerbehörden auf, die Zahl der Abschiebungen zu erhöhen
und dabei auf vorliegende Erkrankungen und kriegsbedingte Traumatisierungen
keine Rücksicht zu nehmen.
Seither erleben wir in Niedersachsen wieder überfallartige Abschiebungen
im Morgengrauen. Nicht einmal Familien, die jahrzehntelang in Deutschland
leben, können darauf vertrauen, dass ihnen der Abschiebungstermin mitgeteilt
wird. Auch vor einer Trennung von Familienmitgliedern scheuen viele Ausländerbehörden
nicht mehr zurück. Als die 24-jährige Gazale Salame trotz einer
im dritten Monat bestehenden Schwangerschaft mit ihrer einjährigen
Tochter im Februar 2005 in die Türkei abgeschoben wurde, brachte ihr
Mann Achmed Siala die älteren, 7 und 8 Jahre alten Kinder gerade zur
Schule. 17 Jahre hatte Gazale Salame in Deutschland gelebt, jetzt sahen
sich die Behörden nicht einmal in der Lage, ihr den Abschied von ihren
Kindern zu ermöglichen, die seither allein mit ihrem Vater in Deutschland
leben und durch das plötzliche Verschwinden ihrer Mutter traumatisiert
und verängstigt sind.
Einen Grund für ein fachaufsichtliches Eingreifen vermochte das niedersächsische
Innenministerium in dem brutalen Vorgehen der Hildesheimer Ausländerbehörde
jedoch nicht zu erkennen, sondern stellte sich schützend von die Ausländerbehörden.
In einem Rundschreiben vom 16.11.2005 nahm das niedersächsische Innenministerium
auf diesen und weitere Abschiebungsfälle Bezug und erklärte: „Die
Einzelfälle sind teilweise auf erhebliches Medienecho gestoßen
und wurden in der Öffentlichkeit kontrovers diskutiert. Dabei wurde
durch die Berichterstattung der Eindruck vermittelt, dass einzelne Ausländerbehörden
mit besonderer Härte gegen diesen Personenkreis vorgehen. Diese Einschätzung
ist nicht zutreffend, vielmehr stand die Vorgehensweise der Ausländerbehörden
im Einklang mit den in der Dienstbesprechung vereinbarten Grundsätzen“.
Diese pauschale Inschutznahme der Ausländerbehörden verdeutlicht
mehr als alles andere, dass der niedersächsische Innenminister kein
Interesse daran hat, für die Einhaltung menschenrechtlicher Mindeststandards
durch die Ausländerbehörden zu sorgen. Nicht die Menschenwürde
der Flüchtlinge, sondern die Zahl der vollzogenen Abschiebungen setzt
den von offizieller Seite vorgegebenen Maßstab für das Handeln
der Behörden. Das schlägt sich auch bei der Zahl der durchgeführten
Abschiebungen nieder, die vom niedersächsischen Innenministerium mit
etwa 2.000 beziffert wird.
Wie wenig Uwe Schünemann die Menschenwürde von Flüchtlingen
wert ist, verdeutlicht eine Antwort der Landesregierung vom 27.1.2006 auf
eine Kleine Anfrage der Bündnisgrünen zum Umgang der Landesregierung
mit vietnamesischen Flüchtlingen, die abgeschoben werden sollen. Darin
räumt das Innenministerium ein, dass regelmäßig mehr Personen
für Abschiebungsflüge nach Vietnam angemeldet werden als Plätze
vorhanden sind, „um die durch frei bleibende Plätze entstehenden
Kosten zu vermeiden“. Leidtragende dieser Praxis sind die betroffenen
Flüchtlinge: Eine seit 13 Jahren im Bundesgebiet lebende vietnamesische
Familie mit zwei Kindern aus Peine wurde mitten in der Nacht in ihrer Wohnung
von den Behörden abgeholt und zum Flughafen nach Frankfurt am Main
gebracht. Dort wurde der Familie eröffnet, dass im Flugzeug keine Plätze
mehr frei wären. Die Familie wurde zurück nach Peine gefahren
und in einem Obdachlosenasyl einquartiert, wo sie wochenlang auf ihren nächsten
Abschiebungsflug warten musste. Die Wohnung hatten die Behörden bereits
weitervermietet.
Das Innenministerium bedauerte zwar den Fall. Es bestehe jedoch „keine
Veranlassung“, dieses Verfahren zu ändern und etwa die Zahl der
überbuchten Plätze zu verringern, so die Auskunft der Landesregierung:
„Eine größere Toleranz bei der Bemessung der Flugkapazität
würde regelmäßig zu frei bleibenden Plätzen führen,
wodurch sich die Rückführungskosten insgesamt erhöhen würden.“
Das klingt, als sei von Viehtransporten die Rede.
Fünfzig Prozent aller Geduldeten sollen ein Aufenthaltsrecht erhalten
– mit dieser programmatischen Aussage begründete Dieter Wiefelspütz,
innenpolitischer Sprecher der SPD-Bundestagsfraktion, vor einem Jahr die
Erwartungen seiner Partei an das zum 1. Januar 2005 in Kraft getretene Zuwanderungsgesetz.
Sechs Monate später äußerte er sich anlässlich eines
Runden Tisches empört, ja »regelrecht getäuscht und hintergangen«
über die Auswirkungen des neuen Gesetzes. Das Anliegen des Gesetzgebers,
Kettenduldungen abzuschaffen, sei nicht erreicht worden, so Wiefelspütz,
und werde von der Ministerialbürokratie in Bund und Ländern »konterkariert«.
Zu diesem Ergebnis hat auch das niedersächsische Innenministerium wesentlich
beigetragen: In Niedersachsen leben über 22.000 Menschen mit Duldungsstatus,
davon rund 15.000 länger als fünf Jahre. Nur ein verschwindend
kleiner Prozentsatz der geduldeten Flüchtlinge hat inzwischen eine
Aufenthaltserlaubnis erhalten. Dem Gesetz zufolge sollen geduldete Flüchtlinge
ein Aufenthaltsrecht erhalten, wenn sie weder ausreisen noch abgeschoben
werden können.
Doch wer kann ausreisen? Und kommt es dabei auch auf die Zumutbarkeit an?
Nein, sagt das niedersächsische Innenministerium, dies sehe das Gesetz
nicht vor. Anders als in Rheinland-Pfalz, Schleswig-Holstein oder Mecklenburg-Vorpommern
hat das Innenministerium in Niedersachsen die Ausländerbehörden
ausdrücklich angewiesen, nicht zu prüfen, ob eine Ausreise im
Einzelfall zumutbar ist. Allein die technische Möglichkeit einer Ausreise
soll darüber entscheiden, ob ein Aufenthaltsrecht erteilt wird. Entsprechend
restriktiv ist die Praxis der niedersächsischen Ausländerbehörden:
So wird beispielsweise einem 18-jährigen afghanischen Mädchen
aus Hannover, das hier aufgewachsen und zur Schule gegangen ist, zugemutet,
ohne ihre aufenthaltsberechtigten Eltern nach Afghanistan auszureisen. Eine
seit 17 Jahren im Landkreis Cuxhaven lebende Familie soll jetzt „freiwillig“
in das Kosovo zurückkehren. Dem niedersächsischen Flüchtlingsrat
sind nur einige wenige Fälle bekannt, bei denen eine Aufenthaltserlaubnis
nach §25 Abs. 5 Aufenthaltsgesetz in Niedersachsen erteilt wurde Dabei
handelt es sich um Kurden/innen aus Syrien, Familienangehörige von
Flüchtlingen mit Aufenthaltserlaubnis und Schwerkranke. Eine Statistik
dazu führt das niedersächsische Innenministerium nicht. Man wolle,
so die Begründung, die Ausländerbehörden nicht überfordern.
Zum Vergleich: Das viel kleinere Bundesland Rheinland-Pfalz legalisierte
im vergangenen Jahr den Aufenthalt von rund 2.600 Geduldeten auf der Grundlage
des § 25 Abs. 5 AufenthG.
Auch die gesetzlich vorgegebene Möglichkeit, über die so genannte Härtefallregelung des Aufenthaltsgesetzes zumindest für einige schon lange hier lebende Flüchtlinge eine humanitäre Lösung herbeizuführen, wird in Niedersachsen so gut wie nicht genutzt. Im vergangenen Jahr hat das Innenministerium nur in einem einzigen Fall nach Empfehlung des Petitionsausschusses ein Aufenthaltsrecht auf Grund besonderer Härte zugestanden. Weitere fünf Petitionen wurden aus anderen Gründen positiv beschieden, die weit überwiegende Zahl an Anträgen jedoch abgelehnt. Nach Auffassung des niedersächsischen Innenministeriums stellt die Dauer des Aufenthalts keinen Grund für die Feststellung eines Härtefalls dar. In anderen Bundesländern, etwa in Berlin, Nordrhein-Westfalen oder Schleswig-Holstein, erhielten immerhin einige Hundert Flüchtlinge eine Anerkennung als Härtefall.
Blockade einer Bleiberechtsregelung für Altfälle
Nachdem mit Nordrhein-Westfalen und Hessen gleich zwei konservativ regierte Bundesländer im Vorfeld der letzten Innenministerkonferenz im Dezember 2005 eine Bleiberechtsregelung für langjährig geduldete Flüchtlinge unter bestimmten Bedingungen gefordert hatten, schien eine politische Lösung zunächst in Sicht. Es blieb Uwe Schünemann vorbehalten, durch sein kategorisches Nein gemeinsam mit seinem bayerischen Amtskollegen Günther Beckstein einen Bleiberechtsbeschluss der Länderinnenminister zu verhindern. Der dann von den Länderinnenministern verkündete „Kompromiss“, man wolle zunächst die Ergebnisse des Zuwanderungsgesetzes evaluieren, also prüfen, wie viele der bislang Geduldeten auf der Grundlage des § 25 Aufenthaltsgesetzes eine Aufenthaltserlaubnis erhalten haben, macht inhaltlich schon deshalb keinen Sinn, weil diese Zahlen bis Ende des Jahres 2005 vom Ausländerzentralregister und in den meisten Bundesländern noch gar nicht erfasst waren. Offenbar besteht der politische Sinn des Beschlusses vor allem darin, das Thema Bleiberecht auf die lange Bank zu schieben, um vorher die im Rahmen des geplanten Änderungsgesetzes zum Zuwanderungsgesetz geplanten weiteren Verschärfungen der Rechtslage umzusetzen und so lange wie möglich freie Hand bei Abschiebungen zu haben.
Als Alternative zur Bleiberechtsregelung propagiert Schünemann eine Wiederkehr- und Bleiberechtsregelung für Jugendliche im Alter von 15 bis 21 Jahren, die acht Jahre in Deutschland gelebt haben und sechs Jahre hier zur Schule gegangen sind. Es lohnt sich, den Vorschlag des Innenministers einer eingehenderen Würdigung zu unterziehen: Positive Aspekte enthält der Vorschlag aus folgenden Gründen:
a) Eine gesetzliche Regelung zur fortlaufenden Legalisierung eines geduldeten
Aufenthalts nach einer bestimmten Aufenthaltsdauer im Bundesgebiet hat erhebliche
Vorteile gegenüber einer Stichtagsregelung, die nur eine einmalige
und befristete Möglichkeit der Legalisierung bietet.
b) Positiv ist auch die Einbeziehung schon abgeschobener Flüchtlinge,
denen eine legale Möglichkeit der Rückkehr nach Deutschland eröffnet
wird
Dass die Kirchen, Wohlfahrts- und Flüchtlingsverbände den Schünemannschen Vorstoß dennoch nicht freudig begrüßt, sondern kritisch diskutiert und abgelehnt haben, liegt vor allem daran, dass Schünemann seinen Vorschlag ausdrücklich als Alternative zu einer Bleiberechtsregtelung verstanden wissen will. So sinnvoll dieser Vorschlag als Ergänzung der bestehenden Rechtslage ist, so fatal wäre es, ihn im wörtlichen Sinne des Wortes auf Kosten der langjährig im Bundesgebiet lebenden Eltern umzusetzen. Für diese, so rechnete Schünemann in einem NDR-Intervie vom 8.12.2005 vor, fällt die Kosten- Nutzen- Analye negativ aus:
„...wenn man mit 45 Jahren 1.500 Euro verdient, und das bis zum fünfundsechzigsten Lebensjahr durchhält, dann hat man einen Rentenanspruch von 325 Euro, mit allen Sozialleistungen, die man dann zusätzlich bekommt, macht das etwa 600 Euro aus. Das ... ist für die Gesellschaft insgesamt auf jeden Fall eine Belastung.“
Da eine rein fiskalische Begründung für das Auseinanderreißen von Flüchtlingsfamilien dem Innenminister offenbar selbst zu dürftig erscheint, diskreditiert Schünemann die Eltern zusätzlich als gewissenlose Betrüger, die das Asylrecht missbrauchten und ihre Kinder durch ihr verantwortungsloses Handeln zu „unschuldigen Opfern“ gemacht hätten. Diese Form der Diffamierung von Flüchtlingen und ihren Motiven kennen wir durch einige Asylkampagnen in den letzten Jahrzehnten. Natürlich weiß auch der Innenminister, dass der lange Aufenthalt von Flüchtlingsfamilien in Deutschland in der Regel auf objektive Gründe wie Krieg, Bürgerkrieg, fehlende Flugverbindungen oder anarchische Zustände in den Herkunftsländern und nicht etwa auf subjektive Faktoren zurückzuführen ist. Rund 50% aller in Deutschland lebenden geduldeten Flüchtlinge kommen aus dem ehemaligen Jugoslawien. Ein Innenminister, der ein Aufenthaltsrecht für langjährig in Niedersachsen lebende Kinder von der Bedingung abhängig macht, dass die Eltern das Land verlassen, setzt nicht nur die Familien einem ungeheuren Druck aus, sondern stellt das Grundrecht des Schutzes von Ehe und Familie insgesamt in Frage.
Schünemann setzt auf Konfrontation
Nicht nur der Inhalt, auch der Stil der Schünemannschen Politik ist bedenklich. Es verwundert die Ruppigkeit, mit der der Innenminister die Forderungen von Flüchtlings- und Wohlfahrtsverbänden in den Wind schlägt, Gesprächstermine absagt und sich auch öffentlich in Konfrontation zu den Kirchen und Wohlfahrtsverbänden begibt. Auf die detaillierte Kritik der Landesarbeitsgemeinschaft der Freien Wohlfahrtspflege in Niedersachsen und des Niedersächsischen Flüchtlingsrats in einem Memorandum von September 2004 antwortete das Innenministerium mit einer Stellungnahme, in der es seine Linie noch einmal bekräftigte. Ein mit dem Innenminister vereinbarter Gesprächstermin über die niedersächsische Flüchtlingspolitik wurde später vom Innenministerium ohne konkrete Begründung wieder abgesagt. Die hannöversche Bischöfin Margot Käsmann, die sich auch öffentlich für ein Bleiberecht von Geduldeten engagiert und mehrere Fälle von Abschiebung angeprangert hat, erhielt vom Innenminister einen wütenden siebenseitigen Brief mit Rechtfertigungen und Vorhaltungen an die Adresse der evangelischen Kirche. Auch in der katholischen Kirche rumort es gewaltig, nicht erst seit der neue Hildesheimer Bischof Trelle öffentlich ein Bleiberecht für Geduldete gefordert hat. Auf einer Pressekonferenz bescheinigte der Diözesan-Caritasverband Hildesheim dem Innenminister am 11.1.2006, seine Politik widerspreche der Menschenwürde. Eine vom niedersächsischen Innenministerium fest zugesagte Teilnahme an einem Seminar des Flüchtlingsrats zum Zuwanderungsgesetz sagte das Innenministerium mit der Begründung ab, der Landesflüchtlingsrat habe seine Kritik an der Räumung eines Kirchenasyls in Peine trotz der Ausführungen des Innenministers im Landtag nicht revidiert. All dies wirft die Frage auf, ob die verantwortlichen Personen im Innenministerium im Umgang mit unbequemen Positionen einfach nur mangelnde Souveränität beweisen, oder ob hier eine gezielte Eskalationsstrategie verfolgt wird. Schünemann jedenfalls scheint nicht an einer Verständigung interessiert und stilisiert sich als Fels in der Brandung: „Ich habe keine Angst, der Buhmann zu sein“, erklärte er in einem HAZ-Interview am 24.1.2006, und wiederholte: „Ein generelles Bleiberecht kommt für uns nicht in Frage – es würde ... eine zu große Sogwirkung entfalten.“ Für die Zukunft verspricht er, es werde keine „Probleme mehr mit Menschen geben, die mehr als zehn Jahre im Ungewissen leben. Wir streben an, dass alle Asylverfahren in einem kurzen Zeitraum von höchstens drei Jahren abgeschlossen werden.“ Angesichts der geringen Flüchtlingszahlen – gegenwärtig kommen im Jahr so viele Flüchtlinge nach Deutschland wie vor zehn Jahren im Monat - wäre das doch eigentlich ein Grund mehr, den Langzeitgeduldeten ein Aufenthaltsrecht zu erteilen. Aber der Innenminister hat sich festgelegt: Eine Bleiberechtsregelung wäre ein „nicht verkraftbares Signal“.
Schünemann outet sich in dieser Debatte als Anhänger eines modernen
Migrationsregimes, das sich nicht mehr der verquasten Fremdenabwehrpolitik
des alten Ausländerrechts verpflichtet fühlt, sondern die Migrantengruppen
nüchtern nach ihrer Nützlichkeit für die deutsche Volkswirtschaft
selektiert. Die bundesweit rund 4.000 Jugendlichen, denen Schünemann
ein Aufenthaltsrecht zubilligen will, könnten „Deutschland künftig
etwas von dem zurückgeben, was es in ihre Ausbildung investiert hat“,
heißt es in einem Vermerk des niedersächsischen Innenministeriums
vom 4.11.2005 an die Kollegen in anderen Bundesländern. Die älteren,
durch Arbeitsverbote, Lagerleben und staatliche Alimentation auf niedrigstem
Niveau zermürbten Flüchtlinge erscheinen ihm als zu unproduktiv
und sollen daher gehen. Dass die Eltern und Großeltern, selbst wenn
sie nicht erwerbstätig sind oder eine geringe Rente beziehen, im Leben
einer Flüchtlingsfamilie eine wichtige stabilisierende Funktion als
Ratgeber, Kindererzieher und Brückenbauer in die alte Heimat haben
könnten, kommt ihm nicht in den Sinn. Hier tritt das erschreckende
Menschenbild eines Politikers zutage, der jeglicher basaler mitmenschlicher
Regungen abhold Flüchtlinge auf ihre ökonomische Funktion für
unser Land reduziert. „Menschen sind nicht nur Kostgänger, Herr
Schünemann!“, rief ein empörtes Bündnis aus Wohlfahrts-
und Menschenrechtsverbänden ihm auf seine Kostenberechnungen zu den
Folgen eines Bleiberechts für Flüchtlinge zu. Darauf hat er bislang
keine Antwort gegeben.